Staffel 9, Folge 5

Blutgetränkte Prärie: Sand Creeks verlorene Seelen

1864: Die USA befinden sich in der Endphase des Amerikanischen Bürgerkrieges. Auf den Schlachtfeldern verlieren hunderttausende Amerikaner ihr Leben. Der Boden der jungen Nation ist jedoch auch getränkt vom Blut der amerikanischen Ureinwohner. In Colorado nähern sich Freiwilligenheere der US-Army den Stämmen der Cheyenne und Arapaho und verüben das „Sand Creek Massacre”. Damit beginnt eine neue, noch gewaltsamere Phase der Vertreibung und Unterdrückung.

Howling Wolf: At the Sand Creek Massaker, ca. 1875. Gemeinfrei, via Wikimedia Commons

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“Aufruf an das Volk der Herero! Ich, der große General der deutschen Soldaten, sende diesen Brief an das Volk der Herero. Die Hereros sind nicht mehr deutsche Untertanen. Sie haben gemordet und gestohlen, haben verwundeten Soldaten Ohren und Nasen und andere Körperteile abgeschnitten, und wollen jetzt aus Feigheit nicht mehr kämpfen. (…) Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen […].” – Vernichtungsbefehl Lothar von Trotha, 1904

© Bundesarchiv, Bild 134-C0310 / Fotograf(in): o. Ang.

Bild 134-C0310
Zentralbild
Generalleutnant Lothar von Trotha, der Oberfehlshaber der Schutztruppe in Deutsch-Südwestafrika, mit seinem Stabe in Keetmanshoop während des Herero-Aufstandes 1904.
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© Bundesarchiv, Bild 183-R27576 / Fotograf(in): o. Ang.

Dieser Krieg, der ursprünglich vor allem gegen die Herero geführt wurde, wird im Oktober 1904 ausgeweitet und richtet sich fortan auch gegen die Nama, ein anderer Volksstamm, welcher bis zur Schlacht am Waterberg noch als “Verbündeter” des Kaiserreichs antrat. Die nun ihrerseits den Kampf gegen die deutschen Schutztruppen aufnehmen. Insgesamt vernichten die deutschen Kolonialtruppen 65.000 der 80.000 Herero und ca. 10.000 der 20.000 Nama.

Der erste Völkermord

Ein "History-Crime" Podcast der Georg-von-Vollmar-Akademie e.V.

Die Georg-von-Vollmar-Akademie e.V. ist eine Einrichtung der politischen Erwachsenenbildung in Kochel am See. Verpflichtet fühlen wir uns, wie unser Namensgeber Georg von Vollmar und Gründer Waldemar von Knoeringen, folgenden Grundwerten: Soziale Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Unsere wesentliche Aufgabe besteht darin, Menschen für die Mitarbeit in unserer Demokratie zu gewinnen und zu begeistern.

Kurz & Knackig

Folge 10: Völkermord in der Omaheke

Niklas Miyakis: Liebe Hörerinnen und Hörer, ein herzliches Willkommen zu unserer heutigen Episode und natürlich auch ein herzliches Willkommen im Jahr 2021, in dem unsere manchmal auch etwas abenteuerliche Podcast-Reise weitergehen wird. Und mit auf dieser Reise, wenn ich jetzt in so einer kleinen, ich bleib mal in so einer Boots-Metapher, Hannes, dann sitzt du wie immer mit an Bord und wirst das natürlich auch über das ganze Jahr hinweg tun. Deswegen auch dir ein herzliches Hallo. #00:01:14.0#

Dr. Hannes Liebrandt: Hallo Niklas! #00:01:15.0#

Niklas Miyakis: Wie bist du ins Jahr gekommen? Wie hast du da gefeiert? #00:01:17.8#

Dr. Hannes Liebrandt: Ruhiger, oder? Wie alle, denke ich mal. #00:01:20.5#

Niklas Miyakis: Notgedrungen ruhiger. #00:01:21.8#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja, ich bin aber noch nie so dieser Silvesterknaller-Böller-Typ gewesen. Mein Hund dankt das auch jedes Jahr, wenn es mal ein bisschen ruhiger ist. Aber ansonsten ganz gut, und ich freue mich wirklich auf das Jahr. Das wird besser, wird in vieler Hinsicht besser, Niklas. #00:01:35.3#

Niklas Miyakis: Ich hoffe, das meinst du jetzt nicht mit Aussicht auf den Podcast? #00:01:37.5#

Dr. Hannes Liebrandt: Nein, nein. #00:01:38.3#

Niklas Miyakis: Der ist ja hoffentlich schon gut. Aber auch der wird natürlich immer besser. Hannes, wir haben heute wieder einen spannenden Fall mitgebracht, schreckliche Verbrechen, über die wir reden werden. Es ist kein ganz klassischer History Crime Fall, das hatten wir ja auch schon ein paar Mal. Ich würde vorschlagen, wir steigen einfach ein in unsere heutige Zeitreise. Diese führt uns in die Omaheke-Wüste, genau in das Jahr 1904, in den August. Es herrscht eine brütende Hitze. Wohin man blickt, sieht man Dürre. Die totale Trockenheit, die nächste Regenzeit ist erst für November angekündigt. Und mitten in dieser lebensfeindlichen Gegend, oder besser gesagt, durch diese lebensfeindliche Gegend marschieren nun Soldaten, die man hier nicht unbedingt erwarten würde. Marschieren, Hannes, das klingt jetzt relativ harmlos. Wir werden gleich dazu kommen, dass es sich eigentlich um eine Jagd handelt. Diese Soldaten treffen jetzt an vertrockneten Wasserstellen auf metertiefe Erdlöcher, und überall um diese Erdlöcher finden sie Leichen. Diese Menschen, die dort ums Leben gekommen sind, haben in ihrer ganzen Verzweiflung nach Wasser gegraben, ehe sie verdursteten. Und mitten in dieses grauenhafte Szenario hinein hört man nun immer wieder Schüsse auf die wehrlosen, noch lebenden Menschen, die eben noch nicht verdurstet sind. Auch Frauen und Kinder werden erschossen. Irgendwann können auch die Soldaten nicht mehr. Weil die

Bedingungen sie dazu zwingen, kehren sie um, ziehen sich zurück an ihren Stützpunkt. Und spätestens zu diesem Zeitpunkt erkennen sie, dass die Wüste das vollenden wird, was sie mit ihren Waffen begonnen haben, die Vernichtung der in die Wüste fliehenden Menschen, die Vernichtung eines ganzen Volkes. Hannes, du hast uns heute die wüste Omaheke als Tatort für unsere heutige Geschichte mitgebracht. Mit welchen schrecklichen Ereignissen beschäftigen wir uns? #00:03:36.9#

Dr. Hannes Liebrandt: Wir müssen heute wieder mal echt alle tief durchatmen, um irgendwie das Geschehene begreifen zu können. Wobei begreifen eigentlich auch der falsche Ausdruck ist. Du hast eine Jagd angesprochen, und die Jagd ging eben nicht auf Tiere, wie man das eigentlich mit einer Jagd irgendwie verbinden würde, sondern eben auf Menschen. Und wir sprechen heute wohl über den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts, und vor allen Dingen auch den ersten Völkermord in der deutschen Geschichte. Der heutige Fall in dieser Wüste bildete letztendlich den Auftakt einer Reihe von Völkermorden, die sich fast schon echt so wie so ein roter Faden durch das 20. Jahrhundert ziehen. Das 20. Jahrhundert wird ja auch oftmals als das Jahrhundert der Völkermorde bezeichnet. Die Menschen, die hier wirklich gejagt wurden in dieser Wüste, gehörten dem sogenannten Herero-Volk an. Dieses Herero-Volk war ein Hirtenvolk im heutigen Namibia, aber auch in Botswana und Angola. Und diese fast vollständige Vernichtung des Volkes durch deutsche Schutztruppen, das ist letztendlich heute unsere Geschichte. #00:04:40.7#

Niklas Miyakis: Jetzt hast du von Schutztruppen gesprochen und deutsche Schutztruppen. Warum Schutztruppen und was sollen die da in Namibia? Da würde man ja jetzt nicht unbedingt drauf kommen. Was sollen die dort beschützen? #00:04:53.3#

Dr. Hannes Liebrandt: In Namibia war damals zu der Zeit eine deutsche Kolonie oder besser gesagt Deutsch-Südwestafrika. Deutschland hatte ja mehrere Kolonien in Afrika, zwar nicht ganz so viele wie Großbritannien und Frankreich, aber eben neben Namibia zum Beispiel auch noch Deutsch-Ostafrika, Kamerun und Togo.

Diese deutschen Soldaten, über die wir gerade gesprochen haben, die nannte man eben Schutztruppen. Genauso wie man die Kolonien nicht Kolonien nannte, sondern Schutzgebiete. Das geht auch noch auf Bismarck zurück. Es handelt sich hier aber eben nicht, und ich glaube, das kann sich jetzt jeder schon denken, um den Schutz der einheimischen Bevölkerung, sondern eben der deutschen Siedler und eben der deutschen Wirtschaftsinteressen. Das war ganz wichtig, deswegen hat man so ein bisschen diesen zynischen Begriff der Schutztruppe auch gewählt. Diese Kolonien, die bleiben bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, gehören weiterhin zu Deutschland, ehe dann der Versailler Friedensvertrag die Kolonien dann letztendlich abtreten lässt. #00:05:51.5#

Niklas Miyakis: Also Schutztruppen, keine Befreier und Beschützer der Einheimischen, das ist, glaube ich, jetzt relativ deutlich geworden. Aber lass uns noch mal ein bisschen stärker in die Geschehnisse in der Omaheke-Wüste eintauchen. Wir haben gesagt, dass die Deutschen immer weiter in die Wüste vorgedrungen sind und dort auf wehrlose Männer und Frauen geschossen haben. Wie kam es dazu? #00:06:10.4#

Dr. Hannes Liebrandt: Unmittelbar davor gab es eine Schlacht zwischen deutschen Schutztruppen und eben den Herero. Fast 60.000 Männer, Frauen und Kinder der Herero haben sich da am Waterberg versammelt, deswegen heißt die Schlacht dann auch die Schlacht am Waterberg, auf der anderen Seite die deutschen Schutztruppen. Man erwartete wohl ein Friedensangebot. Die Deutschen dachten aber gar nicht an ein Friedensangebot, und deshalb kam es eben zu dieser Schlacht, die keinen eindeutigen Sieger dann wirklich brachte. Die Herero, die überlebenden Herero, fliehen dann in die Wüste beziehungsweise werden dann wirklich wie Viehherden in die Wüste getrieben. Und dann kommt es genau zu diesen Szenen, die du vorhin bereits schon angesprochen hast. #00:06:53.5#

Niklas Miyakis: Also man schneidet jetzt wirklich richtig die Menschen sozusagen ab. Man macht die Ausgänge der Wüste dicht, man besetzt ganz gezielt

Wasserstellen und treibt damit eben den Großteil dieser 60.000 Frauen, Kinder und Männer immer weiter in die Wüste hinein. Was hat das für Folgen? #00:07:12.0#

Dr. Hannes Liebrandt: Das ist wirklich der Auftakt von einem Vernichtungskrieg, müsste man schon fast sagen. Kommen wir dann später noch mal dazu. Anfang Oktober 1904 ordnete der deutsche Oberbefehlshaber Lothar von Trotha eben an, dass alle Menschen, die aus der Wüste zurückkehren möchten, wirklich zu vernichten seien. Und dieser Befehl geht dann auch als Vernichtungsbefehl in die Geschichte ein. Habe ich jetzt mal mitgebracht, den entscheidenden Auszug. Also Lothar von Trotha, ist jetzt so eine Art von Proklamation an das Herero-Volk: „Aufruf an das Volk der Herero. Ich, der große General der deutschen Soldaten, sende diesen Brief an das Volk der Herero. Die Hereros sind nicht mehr deutsche Untertanen, sie haben gemordet und gestohlen, haben verwundeten Soldaten Ohren und Nasen und andere Körperteile abgeschnitten und wollen jetzt aus Feigheit nicht mehr kämpfen. Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewähr, mit oder ohne Vieh erschossen. Ich nehme keine Weiber oder Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück oder lasse auf sie schießen.“ #00:08:25.7#

Niklas Miyakis: Wenn wir das jetzt werten, das ist ja auch in der Forschung relativ heftig diskutiert worden, ob das sozusagen der Beleg für den Völkermord ist. Aber eigentlich müsste man sagen, dieser Völkermord hat dann schon zwei Monate früher angefangen, als man die Menschen in die Wüste getrieben hatte. #00:08:40.4#

Dr. Hannes Liebrandt: Genau. Und das ist ganz wichtig, dass man das versteht. Also die befinden sich schon in der Wüste und jetzt wird der Befehl eben veröffentlicht, hey, jeder, der jetzt hier irgendwie aus dieser Wüste zurückkommt, soll sofort erschossen werden. #00:08:52.3#

Niklas Miyakis: Also er setzt sozusagen noch mal auf das Unfassbare eine noch grausamere Stufe drauf, oder? #00:08:59.8#

Dr. Hannes Liebrandt: Genau. Das wussten die Soldaten auch, wenn sie diesem Befehl nicht nachgegangen sind, dann mussten sie mit entsprechenden Strafen rechnen. #00:09:07.7#

Niklas Miyakis: Wir können deshalb, glaube ich, sagen, dass wir mit Lothar von Trotha dem Grauen unseres heutigen Falls ein Gesicht geben. Lass uns mal versuchen, so ein bisschen über den Charakter dieses Mannes zu sprechen. Vielleicht erstmal vorab, wer ist denn das überhaupt? Wo kommt der her? #00:09:21.9#

Dr. Hannes Liebrandt: Er stammt aus einer ganz altehrwürdigen preußischen Offiziersfamilie. Er was sicherlich ein Hardliner, das beweist er wirklich auch schon in den Kolonialkriegen in Deutsch-Ostafrika und auch bei der Niederschlagung des Boxeraufstands in China. Dort ist er wirklich auch schon rücksichtslos als Oberbefehlshaber gegen die dort lebende Bevölkerung vorgegangen. 1904 wird er eben nun Oberbefehlshaber der Schutztruppen, eben in Deutsch-Südwestafrika, also in unserem heutigen Namibia. Mit seinem Amtsbeginn geht jetzt die Gewalt in eine neue Stufe über. Noch während seiner Anreise nach Deutsch-Südwestafrika, also der war noch gar nicht vor Ort, ermächtigte er seine kommandierenden Generäle, sogenannte Rebellen – und das hat man dann überall vermutet, diese Rebellen – Marodeure, Viehdiebe sofort standrechtlich erschießen zu lassen. Also mit Lothar von Trotha kann man eine ganz klare Zäsur setzen, bricht die Gewalt offen aus in Deutsch-Südwestafrika. #00:10:23.3#

Niklas Miyakis: Jetzt ist es ja so, dass man es oft sich ein bisschen zu leicht macht, das nur auf eine Figur sozusagen alles zu kanalisieren. Das war sicherlich nicht nur von Trotha allein, der diesen Völkermord am Ende ja auch bedingt hat. Es gab ja auch Missionare vor Ort, skrupellose Beamte zum Teil. Und von denen tun sich eben einige immer wieder als Hardliner hervor. Ich habe da eine Quelle mitgebracht, Hannes, wo ein deutscher Missionar nach Hause vermutlich telegrafiert hat. Und da

heißt es, man werde aufräumen, aufhängen, niederknallen bis auf den letzten Mann, kein Pardon geben. #00:10:58.3#

Dr. Hannes Liebrandt: Entsprechende Stimmen, die du ja auch gerade so gesagt hast, die kamen auch aus Berlin. Zum Beispiel der oberste Militär des deutschen Kaiserreichs Alfred von Schlieffen, kennt man vielleicht … #00:11:09.3#

Niklas Miyakis: Von-Schlieffen-Plan. #00:11:10.3#

Dr. Hannes Liebrandt: … richtig, Erster Weltkrieg Schlieffen-Plan, der spricht auch in Bezug auf Deutsch-Südwestafrika von einem Rassenkampf, der nur gewonnen werden kann, wenn eine Partei – in seinen Augen natürlich die Herero – vollständig vernichtet sei. Niklas, das müssen wir jetzt wirklich hier noch mal ganz genau betonen: Es ging bei diesem Konflikt, bei diesem Völkermord, eben nicht um das Brechen der militärischen Widerstandskraft, das hatte man längst getan, die sind längst in die Wüste geflohen, sondern es ging wirklich um den Massenmord an Männern, Frauen, Kindern, Greisen, ungeachtet dessen, ob sie bewaffnet gewesen sind oder nicht. #00:11:48.1#

Niklas Miyakis: Unterwerfung heißt in dem Fall Ausrottung. Also wir haben es ohne jeden Zweifel, das ist, glaube ich, relativ unstrittig, mit einem rassistisch motivierten Vernichtungskrieg, mit einem Völkermord zu tun. Jetzt lass uns vielleicht auch noch mal so ein bisschen dahin gehen, wo hat denn dieser Konflikt seine Ursprünge? Es ist ja so gewesen, dass tatsächlich auch die Herero verschiedene Vergeltungsaktionen durchgeführt hatten, also deutsche Siedler angegriffen haben. Ich finde, wenn man sich das betrachtet, darf man aber eines nicht vergessen, dass es ja die Deutschen sind, die hier fremdes Territorium betreten haben, die hier fremdes Territorium annektiert haben, dort ihre Verwaltung eingeführt haben, deutsche Siedlungen bauten und den Menschen vor Ort ja auch dann tagtäglich im Leben zeigten, dass sie eben nicht gleichwertig sind. #00:12:36.7#

Dr. Hannes Liebrandt: Und deswegen ist die Phase des Kolonialismus oder die Geschichte des Kolonialismus eigentlich immer begleitet auch mit Konflikten, Kriegen, Auseinandersetzungen. Im 18., 19. und vor allen Dingen dann im 20. Jahrhundert kommt jedoch noch eine neue Facette hinzu, nämlich vor allem die Facette des Imperialismus. Also wir denken jetzt so an klassischen Kolonialismus, neue Siedlungsgebiete erschließen, vielleicht auch das Suchen nach Wirtschaftsvorkommen. Im 19. und 20. Jahrhundert vor allen Dingen kommt aber eine neue Zielkomponente hinzu, nämlich die Machtausdehnung, die Erweiterung des Territoriums, der Nationalismus als Triebfeder auch in Europa und damit auch die Erhöhung beziehungsweise Erweiterung des eigenen Territoriums in die Peripherie hinein. Deswegen waren es eigentlich nicht nur noch Wirtschaftsinteressen oder Siedlungsinteressen. Afrika ist wirklich so der Hotspot dieses Imperialismus. Zwischen 1870 und 1914 kann man regelrecht von einem Wettrennen um Afrika reden, und wird komplett aufgeteilt zwischen allen möglichen europäischen Mächten, vor allem … #00:13:47.8#

Niklas Miyakis: Kennt man, glaube ich, auch noch, wenn man so an den eigenen Schulunterricht zurückdenkt, da steht das ja auch in den Lehrplänen drin. Und man erkennt aber diese sehr gradlinigen Staatsgrenzen ja auch heute noch, dass da einfach externe Mächte ganz willkürlich am Reißbrett sozusagen die Grenzen geschlossen haben. #00:14:04.3#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja. Diese Konflikte, die damit verbunden sind, auch ethnische Konflikte, religiöse Konflikte durch diese willkürlichen Grenzziehungen, die sehen wir heute auch noch. Sehen wir vor allen Dingen auch in der Phase Dekolonialisierung dann nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber jetzt noch mal zurück zu Deutsch-Südwestafrika. Deutschland beziehungsweise das deutsche Kaiserreich, das war eine sehr verspätete Imperialmacht. Also Bismarck hat sehr lange immer gezögert, irgendwie den Schritt zu Kolonien zu begehen. Er sagte immer mal, Frankreich liegt links, Russland liegt rechts, in der Mitte liegen wir. Das ist meine Karte von Afrika. Aber trotz dieser ablehnenden Haltung gegenüber Kolonien oder

Schutzgebieten werden dann insbesondere ab 1884 mehrere Gebiete unter deutschen Schutz gestellt, noch 1884 nämlich Deutsch-Südwestafrika, über das wir heute sprechen. Aber danach eben auch noch Togoland, Kamerun und eben Deutsch-Ostafrika. #00:15:01.6#

Niklas Miyakis: Was man da natürlich auch dazusagen muss, Deutschland in diesem Wettrüsten um Kolonien relativ spät dran, klar, Bismarck, der da anfangs ein bisschen zurückhaltender ist, man darf aber ja auch nicht vergessen, das Deutsche Reich gründet sich eben auch sehr spät. #00:15:14.2#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja genau. #00:15:15.2#

Niklas Miyakis: Also kann ja auch dann erst frühestens, wenn man so will, dann in den 1870er Jahren. #00:15:20.2#

Dr. Hannes Liebrandt: Und der innenpolitische Druck wird dann auch immer größer, also insbesondere auch auf Bismarck. Wenn man jetzt fragt, woher der Sinneswandel bei Bismarck dann eben rührte, es gab da richtige Parteien, Gruppierungen, Organisationen, Aufforderungen, Pamphlete an die Politik, endlich doch mal einen Platz an der Sonne zu bekommen. #00:15:39.4#

Niklas Miyakis: Wir wollen niemanden in den Schatten stellen, aber wir wollen auch einen Platz an der Sonne, war, glaube ich, so das geflügelte Wort damals, glaube ich, vom Reichskanzler nach Bismarck dann. Kann das sein? #00:15:48.0#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja genau. #00:15:48.8#

Niklas Miyakis: Caprivi, oder? #00:15:49.7#

Dr. Hannes Liebrandt: Caprivi vor allen Dingen dann noch, aber dann Wilhelm … #00:15:53.8#

Niklas Miyakis: Das ist grad bei mir gefährliches Halbwissen. Ich weiß nicht, ob er das wirklich gesagt hat. Können uns unsere Hörerinnen und Hörer ja sonst nachliefern. #00:15:59.7#

Dr. Hannes Liebrandt: Es kommen dann mehr und mehr Hardliner in die Politik. Und diese Lobbyisten- und Interessensgruppen nehmen auch deutlich stärkeren Einfluss auf die Politik, insbesondere dann unter Wilhelm. Nämlich unter Wilhelm kommen dann auch noch Teile im Pazifik, West-Samoa und Teile Mikronesiens, die Karolinen, Marianen, Palau werden dann auch deutsche Kolonien. Und Niklas, ich weiß jetzt, wir haben ja kurz zusammen studiert und ich will jetzt hier keine Anekdote verbreiten, aber wir waren ja in der Studienzeit tatsächlich in Mikronesien. #00:16:32.1#

Niklas Miyakis: Ja, nicht wir, also ich war nicht dabei. #00:16:33.4#

Dr. Hannes Liebrandt: Du eben nicht, du bist abgesprungen zwei Wochen vorher oder so. #00:16:35.7#

Niklas Miyakis: Das war zu teuer für mich. #00:16:37.0#

Dr. Hannes Liebrandt: Dort sieht man tatsächlich noch, also in Saipan und Ponape sieht man schon noch deutsche Einflüsse. Das heißt, man sieht deutsche Kirchen, man sieht eben Gräber mit deutschen Namen drauf. Und man sieht teilweise auch die Straßenzüge und so, die wohl von Deutschen errichtet worden sind. Also was will

ich damit sagen? Auch in der heutigen Zeit sind diese Zeichen dieser Kolonialzeit auch noch sichtbar. #00:17:03.5#

Niklas Miyakis: Lass uns mal so ein bisschen dahin gehen, wieso ändert sich das mit Blick auf das Deutsche Reich? Wieso ist man dann plötzlich da doch sehr darum bemüht eben, die eigene Macht auch, du hast es vorhin so schön gesagt, an der Peripherie auszudehnen? Wieso wird das Thema Kolonialismus dann doch akuter? Du hast es so ein bisschen schon angedeutet, aber woher kommt dieser Sinneswandel dann doch? #00:17:28.0#

Dr. Hannes Liebrandt: Es gibt mehrere Theorien. Ich glaube tatsächlich auch, dass in Europa selbst die Rivalität immer mehr zugenommen hat. Man hat Großbritannien gesehen, man hat das Commonwealth gesehen, das britische Empire, man hat Frankreich gesehen, die große Teile von Nordafrika unter ihrer „Kontrolle“ hatten. Selbst so kleine Länder wie Belgien, Niederlande hatten eben weitreichende Kolonialgebiete, die auch wirtschaftlich lukrativ gewesen sind. Dann ist man bisschen auf diesen Zug aufgestiegen. Und auch dieser innenpolitische Druck, den ich bereits schon mal gesagt habe, der wird dann auch immer wichtiger zunehmend. Der Zeitgeist ändert sich einfach. #00:18:07.2#

Niklas Miyakis: Mir kam gerade, dass es vermutlich nicht stimmt, dass es Caprivi war. Deswegen habe ich schnell, während du wieder endlos monologisiert hast, gegoogelt. Danke, dass du mir die Zeit gegeben hast. Es war Bernhard von Bülow. Also wir brauchen keine Zuschriften, wir wissen, dass es falsch war. Hannes, lass uns dann aber doch vielleicht auch noch mal so ein bisschen etwas direkter zurück nach Afrika, wo sich unser, wenn man so will, heutiger Tatort befindet. Und trotz dieser Kolonien im Pazifik lag ja durchaus auch der koloniale Schwerpunkt in Afrika. #00:18:38.9#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja, kann man sagen, auf jeden Fall. #00:18:40.5#

Niklas Miyakis: Wir haben gesagt, dass die Besitzungen von deutschen Kaufleuten unter dem Schutz des Reiches gestellt wurden. Also es sind zuerst die Kaufleute, die dort auftauchen. Da heißt es dann ja auch immer so schön: the flag follows the trade. Also zuerst kommen die Siedler und dann sagt man irgendwann, wir beschützen jetzt euch sozusagen als Staat. Das ist jetzt sehr vereinfacht alles ausgedrückt, aber so kann man sich, glaube ich, den Kolonialismus ein Stück weit vorstellen. #00:19:09.6#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja, es waren am Anfang wirtschaftliche Interessen, die dann zu machtpolitischen Interessen werden. Sie werden dann aber auch zum Machtfaktor, insbesondere für Kaiser Wilhelm II, der, hatte ich ja schon gesagt, so eine gewisse Triebfeder auch darstellte. Die Kolonien waren nämlich direkt dem Kaiser unterstellt. Und sie bedeuteten dann auch wirklich eine deutliche Machtsphäre. Er benennt Gouverneure, die dann letztendlich so das ausführende Organ Berlins darstellten. Aber es gab in diesen Kolonien, egal ob jetzt Kamerun, Togo, Deutsch-Südwestafrika, ja auch Phänomene, Ereignisse, die man in Berlin nicht so gern gesehen hat. Zum Beispiel sexuelle Beziehungen und teilweise sogar Ehen zwischen Deutschen und afrikanischen Frauen. Und hier kommt der Rassismus wieder durch, und auch Fragen der Staatsbürgerschaft. Man sprach da sogar von Mischlingen, also die Kinder, die dann gezeugt werden von Mischlingen. Deshalb wird vor allen Dingen auch in Deutsch-Südwestafrika eine Rassentrennung eingeführt. Gegen den Willen der meisten Siedler vor Ort, die haben sich nämlich schon manchmal viel stärker mit den Bedingungen akklimatisiert und sich auch angefreundet mit Eingeborenen. Aber das wollte man in Berlin nicht sehen. Und auch Missionare standen da komplett dagegen. #00:20:25.8#

Niklas Miyakis: Also wieder so die Missionare als die Hardliner? #00:20:28.3#

Dr. Hannes Liebrandt: Richtig. Die so diese Reinheit der deutschen Rasse und der deutschen Kultur irgendwie aufrechterhalten wollten. Und ein Missionar von der rheinischen Mission, der schrieb zum Beispiel: „Mischehen sind stets eine

Versündigung an dem Rassenbewusstsein. Ein Volk, das gegen diese Ehre sündigt, sinkt unbedingt auf eine niedrige Stufe. Was die Mischlinge betrifft, so müssen wir nach reiflicher Erfahrung sagen, dass die Mischlinge ein Unglück für unsere Kolonie sind. Diese bedauerlichen Geschöpfe sind fast alle stark erblich belastet. Es zeigt sich bei ihnen Lug und Trug, Sinnlichkeit und dummer Stolz, Neigung zur Unehrlichkeit und Trunksucht. Und last but not least sind sie fast alle durch die Bank syphilistisch. Es kann ja auch gar nicht anders sein, denn der Vater taugte nicht viel und die Mutter erst recht nichts.“ #00:21:21.6#

Niklas Miyakis: Ich finde, da sieht man relativ gut, dass dieses Absprechen der Gleichwertigkeit immer auch mit so einer Entmenschlichung einhergeht. #00:21:30.4#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja. Und das wird dann immer systematischer. Also diese Rassentrennung, die ich angesprochen habe, führte dann auch eben dazu, dass die Kolonie zunächst in Bezirke und Distrikte unterteilt wurde. Das wollen wir jetzt nicht näher ausführen. Aber die Afrikanerinnen und Afrikaner vor Ort, die verloren eben ihre wirtschaftliche Selbstständigkeit, ihre politische Selbstständigkeit, sie mussten auf Farmen arbeiten, in Bergwerken oder auch in Haushalten der Weißen arbeiten. Das kennt man aus der Kolonialgeschichte und ist jetzt auch für die deutsche Kolonialgeschichte nicht anders. Man muss sagen, in Deutsch-Südwestafrika lebten doch in der Tat recht viele Siedler, also im Vergleich zu den anderen Kolonien. #00:22:11.5#

Niklas Miyakis: Wir haben kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, das habe ich extra nachgeguckt, also im Jahr 1913 immerhin 12.500 deutsche Siedler. #00:22:19.2#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja. Und damit bricht natürlich eine ganz andere Zeitenwende dort an, die dann eben auch zu diesen Konflikten führt. #00:22:24.4#

Niklas Miyakis: Wenn wir über diesen Völkermord an den Herero sprechen, dann müssen wir ihn eigentlich um eine weitere Volksgruppe erweitern, nämlich die Nama, Hannes, die anfänglich mit Blick auf den Herero-Aufstand und dann eben diese kriegerische Auseinandersetzung 1904, über die wir jetzt gesprochen haben, auf Seiten der Deutschen, wenn man so will, kämpfen und dann aber eben nach der Schlacht am Waterberg ihrerseits den Kampf gegen die deutschen Schutztruppen aufnehmen. #00:22:53.6#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja. Wir haben eigentlich zwei Kriege, den Herero-Krieg und eben diesen Nama-Krieg, und damit eigentlich auch zwei Völkermorde. Die Nama fürchteten eigentlich dasselbe Schicksal wie die Herero erleiden zu müssen. Sie haben es ja genau gesehen, was mit den Herero passiert ist. Und sie begannen dann einen Guerilla-Krieg gegen die deutschen Schutztruppen. Man hat eben gemerkt, die Schlacht am Waterberg, man kann nicht in einer offenen Schlacht den deutschen Schutztruppen gegenüberstehen, und deswegen hat man einen Guerilla-Krieg angezettelt. Und auch hier wieder die deutsche Strategie der Vernichtung, auch gegenüber Frauen und Kindern, auch immer noch von Lothar von Trotha maßgeblich organisiert als Oberbefehlshaber. Und auch hier haben wir eine ganz wichtige Quelle, die ja eigentlich das Pendant zu diesem Vernichtungsbefehl Lothars‘ von Trotha darstellt. Aus der ich jetzt auch noch mal kurz zitiere. Ich bin ja immer dieser lange Quellenvorleser, Niklas. Aber diesmal ist es tatsächlich auch wichtig. #00:23:55.3#

Niklas Miyakis: Ja, wenn ich irgendwas in der Zwischenzeit googeln soll? #00:23:58.2#

Dr. Hannes Liebrandt: Nein, also: „An die Aufständischen Hottentotten, der mächtige große deutsche Kaiser will dem Volk der Hottentotten Gnade gewähren. Dass denen, die sich freiwillig ergeben, das Leben geschenkt werde. Dies tue ich euch kund und sage ferner, dass es den wenigen, welche sich nicht unterwerfen,

ebenso ergehen wird, wie es dem Volk der Herero ergangen ist, das in seiner Verblendung auch geglaubt hat, es könne mit dem mächtigen deutschen Kaiser und dem großen deutschen Volk erfolgreich Krieg haben. Ich frage euch, wo ist heute das Volk der Herero? Wo sind heute seine Häuptlinge? Samuel Maharero, der Anführer der Herero, der einst Tausende von Rindern sein Eigen nannte, ist gehetzt wie ein wildes Tier über die englische Grenze gelaufen. Ebenso ist es den anderen Großleuten, von denen die meisten das Leben verloren haben, und dem ganzen Volk der Herero ergangen, das teils im Sandfeld verhungert und verdurstet, teils von deutschen Reitern, teils von den Owambos gemordet ist.“ Der Brief oder diese Aufforderung endet dann mit der Aufforderung, sich zu ergeben. Es wird dann auch ein Kopfgeld eben auf den Anführer der Nama ebenso auch dann ausgestellt. #00:25:19.1#

Niklas Miyakis: Das zeigt auch, glaube ich, noch mal relativ gut, dieses Sendungsbewusstsein. Es wäre jetzt, glaube ich, auch ein Stück weit naiv, anzunehmen, dass es da irgendwie ein Schuldbewusstsein mit Blick auf die Herero und den Umgang gegeben hätte in der Zeit. Aber davon natürlich auch überhaupt keine Spur. #00:25:33.9#

Dr. Hannes Liebrandt: Mhm (verneinend). Dieser Samuel Maharero, das sollten wir vielleicht auch mal ansprechen, damit man auch mal den Kopf des Widerstandes sieht, der überlebt tatsächlich diesen Völkermord. Der flieht dann über die englische Grenze mit wohl weiteren 1500 Herero in das heutige Botswana und stirbt dort 1923 an Krebs. Also das ist so ein Nationalheld gewesen, der aber eben diesen Krieg überlebt hat. #00:26:04.6#

Niklas Miyakis: Du hast ja jetzt Quellen mitgebracht, aus denen, glaube ich, diese Vernichtungsabsicht deutlich hervorgeht. Ich glaube, das haben wir auch zum Ausdruck gebracht. Aber zu dieser Taktik gehören ja nicht nur die ganz direkten Kriegshandlungen, sondern eben auch, Hannes, ganz wichtig, dass man damals in Deutsch-Südwestafrika schon erstmals Konzentrationslager einsetzt. #00:26:27.7#

Dr. Hannes Liebrandt: Zumindest erstmals in der deutschen Geschichte. #00:26:30.5#

Niklas Miyakis: In der deutschen Geschichte, meinte ich. #00:26:31.7#

Dr. Hannes Liebrandt: Es gab davor wohl schon auch in dem Burenkrieg der Briten in Südafrika sogenannte Concentration Camps, auch in der Karibik. Also es gibt tatsächlich mehrere Vorläufer dieser Konzentrationslager, die man natürlich jetzt nicht eins zu eins mit den Konzentrationslagern der Nazis vergleichen kann. Aber auch hier sehen wir ganz klar, wir haben die Inhaftierung von Frauen, Kindern und Greisen. Es handelt sich also nicht um reine Kriegsgefangenenlager, die schon länger bekannt sind. Und in Deutschland ist vor allen Dingen der Begriff des Konzentrationslagers erstmalig bekannt bei der Inhaftierung der Herero, also genau von dem Volksstamm, über den wir heute sprechen, und später auch der Nama. Man wollte durch diese Konzentrationslager nicht nur eine Konzentrierung dieser Menschen schaffen, sondern man wollte auch bewusst eine Leidenszeit herbeiführen. Man wollte bewusst den Widerstand brechen. Und das hat man eben durch diese Konzentrationslager ja getan. #00:27:28.9#

Niklas Miyakis: Widerstand brechen durch unzureichende Versorgung, pralle Hitze, schwerste Arbeit. Natürlich breiteten sich dadurch auch zahlreiche Krankheiten aus, Skorbut und Typhus. Also es waren wirklich grauenhafte Verhältnisse in diesen Konzentrationslagern damals. #00:27:46.0#

Dr. Hannes Liebrandt: Schauen wir uns dazu Zahlen mal an, Niklas. Zwischen Oktober 1904 und März 1907, das war genau diese Phase, in der eben diese beiden Kriege, der Herero- und der Nama-Krieg, eben wüteten, und dadurch auch Menschen in diesen Konzentrationslagern inhaftiert wurden, starben nach Zahlen der Schutztruppe insgesamt 7682 Herero und Nama. Das waren in etwa 30 bis 50 %

aller Inhaftierten in diesen Konzentrationslagern. Also die Sterblichkeit war enorm hoch in diesen Konzentrationslagern. Und jetzt kommt ein ganz zynischer Aspekt dazu, wie ich finde. Erst am 27. Januar 1908, an Kaisers Geburtstag, also Kaiser Wilhelm II., werden erst die Lager aufgelöst und die letzten Inhaftierten entlassen. Warum zynisch? Weil ich das echt perfide finde, dass man das so noch indirekt als Geschenk des Kaisers irgendwie auch dargestellt hat. Ach ja, der gutmütige und jetzt an seinem Geburtstag beschließt er eben, diese Konzentrationslager zu schließen. #00:28:48.1#

Niklas Miyakis: Aber ich finde diese zynische Geste, von der du jetzt sprichst, die passt auch sehr zu der Sprache der Quellen, die wir vorhin uns angehört haben. #00:28:55.4#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja. #00:28:55.5#

Niklas Miyakis: Also dieses schon fast so ein bisschen aus dem Mittelalter kommende. Lass uns versuchen, zum Ende unserer heutigen Episode auch noch so ein bisschen über die Folgen von damals zu sprechen, auch so ein bisschen in die Gegenwart zu gehen, über die Erinnerungskultur zu reden. Es werden dann also an des Kaisers Geburtstag die Konzentrationslager geschlossen. Aber damit endet ja nicht das Kapitel der Fremdherrschaft in Deutsch-Südwestafrika. Du hast vorhin erzählt, dass die Kolonien erst während des Ersten Weltkrieges dann verloren gehen und dann endgültig durch den Versailler Friedensvertrag abgetreten werden müssen. Wenn man jetzt ein Fazit zieht dieser kolonialen Schreckensherrschaft, die man ja so nennen muss im heutigen Namibia, in Deutsch-Südwestafrika, wie würde das aussehen, wie kann man das ziehen? #00:29:41.7#

Dr. Hannes Liebrandt: Glücklicherweise gelang es den deutschen Kolonialtruppen nicht vollständig, die Herero und Nama zu vernichten. Das ist aber leider nur ein schwacher Trost, wenn man sich die Zahlen anschaut. Allein von den Herero sind

wohl um die 65.000 von circa 80.000 Menschen umgebracht worden, und von den Nama circa 10.000 der 20.000 Nama. Wir haben auch hier eine sehr, sehr hohe Quote an Opfern. Zu diesen menschlichen Opfern, die für sich ja schon schlimm genug sind, wurde in dieser Zeit fast das komplette Land enteignet und deutschen Siedlern übertragen. Es wurde die politische Selbstorganisation aufgelöst. Im Übrigen ist deshalb auch heute noch in Namibia das meiste Farmland in der Hand weißer Farmen. Kennt man auch aus anderen Kolonialgebieten, wie weitreichend letztendlich diese Folgen dieser Kolonialzeit sind. Und darüber hinaus auch muss man Deutsch-Südwestafrika auch dahingehend bewerten, dass hier Vernichtungskrieg geführt wurde. Und zu diesem Vernichtungskrieg zählt eben hier auch ein Rassenkrieg, ganz klar, gegen die schwarze einheimische Bevölkerung, Zerstörung von Nahrungsgrundlagen, systematisch, das Aushungern und Abdrängen von Menschen in lebensfeindliche Gegenden, Stichwort Omaheke-Wüste. Und letztendlich auch die Internierung in Konzentrationslager mit Zwangsarbeit. All das erkennen wir in Grundzügen bereits auch schon in den Herero- und Nama-Kriegen am Anfang des 20. Jahrhunderts. #00:31:13.8#

Niklas Miyakis: Also deshalb auch große Kontroverse in der Geschichtswissenschaft, ob das sozusagen das Exerzierfeld für dann den späteren Holocaust gewesen ist. #00:31:24.2#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja, andere Zeiten, andere Akteure, aber zumindest sehen wir Phänomene in der Zeit bereits, die dann im Nationalsozialismus in ganz anderen Dimensionen auch noch weitergeführt, ausgeweitet worden sind. #00:31:35.8#

Niklas Miyakis: Wir müssen oder wollen am Ende natürlich auch zum Abschluss vielleicht noch kurz zumindest erwähnen, dass es natürlich auch Kolonialverbrechen in anderen Kolonien gegeben hat. Man denke hier alleine an Frankreich, Indochina, Nordafrika, Portugal, Mosambik, Angola, die Niederlande in Indonesien, Großbritannien in Kenia oder was zumindest aus meiner Sicht weitestgehend

unbekannt ist, die Kolonialverbrechen Belgiens im Kongo, wo allein 8 bis 10 Millionen Kongolesen ums Leben gekommen sind unter König Leopold II. #00:32:10.5#

Dr. Hannes Liebrandt: Das 19. und das 20. Jahrhundert, also insbesondere das 20., in der Zeit, das waren ganz gewalttätige. Und mit zahlreichen Opfern in den Kolonien, aber dann natürlich auch in Europa. Jetzt werden sich sicherlich auch einige Zuhörerinnen und Zuhörer fragen: Was ist jetzt überhaupt eigentlich mit diesem Lothar von Trotha passiert, der den Vernichtungsbefehl auch ausformuliert und weitergetragen hat? Es wundert jetzt wohl die wenigsten, dass er nicht irgendwie angeklagt worden wäre oder so. Warum auch? Er hat ja im Dienste der Majestät letztendlich gearbeitet. Aber nach dem Tod des Nama-Führers 1905 hat er dann um Abberufung gebeten. Als er wollte weg. Er hat gedacht, okay, damit ist jetzt seine Arbeit erfüllt. Der Anführer der Nama ist tot, jetzt kann er wieder zurück nach Berlin. Er wird auch mit dem preußischen Militärorden ausgezeichnet, mit dem höchsten, mit dem Pour le Mérite. Aber er hat wirklich keine nennenswerte Funktion mehr danach. Er wird sogar vom Kaiser gemieden, aber stirbt dann 1920 im Alter von 71 Jahren. #00:33:14.8#

Niklas Miyakis: Ich finde auch, dass es immer relativ wichtig ist, solche Namen dann auch so ein bisschen im negativen Sinne in Erinnerung zu behalten, damit eben solche, ja, man muss es so sagen, dann ja auch pflichtbewusste Verbrecher nicht vergessen werden. Wir haben jetzt schon so ein bisschen über die schreckliche Bilanz gesprochen, dieses Völkermords, und wir haben auch immer relativ häufig den Begriff Völkermord verwendet. Ist es denn jetzt eigentlich so Konsens, wird denn zum Beispiel von Seiten der deutschen Politik das Ganze auch so bezeichnet? #00:33:44.3#

Dr. Hannes Liebrandt: Unter der Historikerzunft ist man sich relativ eindeutig und man sagt, es war ganz klar Völkermord. Die wesentlichen Merkmale des Völkermordes kann man eben dort auch nachweisen. Es ist definitiv ein ganz, ganz dunkles Kapitel in der deutschen Geschichte, was vielleicht auch gar nicht so

bekannt in der Erinnerungskultur ist, weil eben ja auch der Holocaust sehr stark in der Erinnerungskultur vielleicht manchmal auch andere Themenbereiche ein bisschen überlagert. Erst seit 2015, du hast ja nach der politischen Komponente gefragt, spricht auch das Auswärtige Amt vom Völkermord. 2015, ich wiederhole mich, Niklas. Es gibt bis heute keine Reparationen, es gibt stattdessen Entwicklungshilfe. Aber das muss man sich vorstellen, das ist ganz wichtig, ob man Reparationen zahlt oder Entwicklungshilfe leistet, nämlich das Naturell dieser Zahlungen ist natürlich ganz anders. Weil bei Reparationszahlungen ein viel stärkeres Eingeständnis der Schuld da ist und bei Entwicklungshilfe kann man sich ja noch eher in die Position des Gönners stellen. #00:34:47.8#

Niklas Miyakis: Wenn ich da kurz reingrätsche? #00:34:49.2#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja. #00:34:49.4#

Niklas Miyakis: Wir haben da ja auch in unserer Distomo-Folge so ein bisschen drüber gesprochen, dass man sich da auch sehr lange schwergetan hat. #00:34:55.5#

Dr. Hannes Liebrandt: Richtig! #00:34:53.8#

Niklas Miyakis: Und das hat, glaube ich, immer auch mit dieser juristischen Komponente zu tun. Sobald man sich von Seiten der Politik diese Schuld eingesteht, dann ist das natürlich schnell in Verbindung mit Reparationen zu bringen. Und da ist man dann plötzlich ganz kleinzüngig. #00:35:10.8#

Dr. Hannes Liebrandt: Und dann schafft man so einen Präzedenzfall und denkt, oh, jetzt kommen die Milliardenforderungen. Das hat auch sehr starke finanzielle Gründe. Wichtig ist: Das Kapitel ist in keinster Weise abgeschlossen. Ihr könnt da sicherlich

auch noch ab und an mal was in den Nachrichten lesen. Erst 2019 wurde eine Klage auf Entschädigungszahlungen von Hinterbliebenen, Angehörigen der Herero und Nama, in New York abgewiesen. Der Hintergrund: Das US-Recht erlaubt nämlich Privatpersonen, Staaten bei Verstößen gegen das Völkerrecht zu verklagen. Nur wurde das eben von diesem Gericht abgelehnt. Und jetzt kommt 2020 eine neue Episode hinzu, für die man sich, ich weiß nicht, Niklas, auch mal ein bisschen schämen muss, wenn man da so als unbeteiligter Bürger etwas liest. Nämlich gab es eine Entschädigungszahlung oder besser gesagt das Angebot einer Entschädigungszahlung an Namibia von der Deutschen Bundesregierung von 10 Millionen Euro. Und hier flammt immer noch diese Kontroverse auf. Nein, es sind eben keine Entschädigungszahlungen, sondern es sollten eigentlich Reparationen zu leisten sein. Also wir haben hier sowohl eine rechtliche, eine staatsrechtliche, eine politische, eine historische, aber eben auch eine moralisch-ethische Debatte. #00:36:28.6#

Niklas Miyakis: Und dann eben auch superschwierig die Frage: Was sind denn Menschenleben überhaupt wert an Geld? Und ich glaube, das ist ganz, ganz schwer zu beziffern, aber 10 Millionen für so einen Völkermord kommt mir dann doch tatsächlich auch ein bisschen ein Stück weit auch lächerlich vor. #00:36:45.4#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja. Und für die Hinterbliebenen vor allen Dingen. #00:36:47.9#

Niklas Miyakis: Naja, und denen geht’s ja natürlich auch um Gerechtigkeit, um eine symbolische Geste. Und mit so einer doch relativ niedrigen Summe ist das, glaube ich, eher ein Schlag ins Gesicht. #00:36:55.9#

Dr. Hannes Liebrandt: Und sie werden dann oftmals in der Öffentlichkeit so dargestellt, als ob es denen nur ums Finanzielle geht. Das ist sicherlich ein Aspekt, ganz klar, aber wie können wir uns anmaßen zu sagen, es geht hier nur ums

Finanzielle? Die wollen sicherlich auch mit diesem Kapitel abschließen mal. Und das ist vielleicht ohne einen entsprechenden formalen Abschluss nicht möglich. #00:37:15.1#

Niklas Miyakis: Wie präsent das Thema auch heute noch in Namibia ist, das sehen wir nicht nur an Forderungen, über die wir jetzt gesprochen haben, sondern auch ganz konkret an der dortigen Erinnerungskultur. Exemplarisch wollen wir zum Abschluss hier noch mal über ein Denkmal sprechen, das zur Erinnerung an die von den deutschen Kolonialtruppen begangenen Verbrechen dort aufgebaut worden ist. Das steht im Zentrum der namibischen Hauptstadt Windhoek. Und auf der Inschrift heißt es, das will ich kurz vorlesen: „Ihr Blut nährte unsere Freiheit.“ #00:37:52.7#

Dr. Hannes Liebrandt: Was sieht man auf diesem Denkmal, wenn man sich das anschaut? Schaut das mal bei Google Bilder einfach mal an, „Denkmal Windhoek“. Man sieht da einen Baum und man sieht an diesem Baum erhängte afrikanische Bürgerinnen und Bürger, Männer und Frauen, und daneben eben Soldaten, die man doch eher als europäisch verorten würde, und Uniformen und Waffen. Und da sieht man eben diesen gewaltsamen Charakter, der bis heute wie ein Nadelstich in der Erinnerungskultur in Namibia ist. #00:38:19.7#

Niklas Miyakis: Hannes, ich würde diese Metapher vielleicht noch ein bisschen verstärken. Du hast jetzt von Nadelstichen gesprochen, es sind natürlich wahrscheinlich eher mit dem Messer direkt ins Herz der Seele zweier Völker, das der Herero und das der Nama. In Deutschland ein Kapitel, was weitestgehend unbekannt ist, und genau das war der Grund, warum wir uns für dieses Thema entschieden haben. Ich finde, wir haben heute gut gesehen, zu welchen Irrwegen der Rassismus, der Nationalismus und der Kolonialismus im Deutschen Reich geführt hat. Wir haben dieses Sendungsbewusstsein relativ gut gesehen, so dieses Verständnis, wir sind die Humanisten, wir bringen euch Kultur, wir bringen euch aus der Steinzeit, von uns könnt ihr was lernen, wir missionieren euch. Und dann kam eben der Aufstand der Herero und dann später der Nama, und dann wurde plötzlich aus diesem

Sendungsbewusstsein noch viel mehr, nämlich, dass dieses undankbare Gesindel, das für nichts zu gebrauchen ist, auch gleichzeitig gefährlich ist, und dass man es deswegen ja ausrotten muss, weil es eben nicht zu zivilisieren ist. Und deswegen dann eben dieser Völkermord, dieser Vernichtungswahn, der dort auf fruchtbarem Boden gestoßen ist. Dieses über andere Menschen Stellen wollten wir thematisieren. Ich würde sagen, dabei belassen wir es für heute. Wir bedanken uns für eure Aufmerksamkeit und bis zum nächsten Mal. #00:39:42.8#

Dr. Hannes Liebrandt: Bis zum nächsten Mal. #00:39:43.6#

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