Staffel 1, Folge 4

Tod und Terror in
Stalins Hofstaat

1934 wird Sergei Kirow, Leningrader Parteichef der Bolschewiki, direkt vor seinem Büro von einem arbeitslosen Schlosser ermordet. Die Suche nach den angeblichen Drahtziehern wird zum Auslöser einer jahrelangen Welle der Gewalt, die auch die Geschichte vom Aufstieg und Fall einer der größten sowjetischen Schlächter aus dem Gefolge Stalins ist …

© Bundesarchiv, Bild 183-H27339 / Fotograf(in): o. Ang.

Josef Wissarionowitsch Stalin, war 1934 bereits uneingeschränkter Alleinherrscher der Sowjetunion. Die Ermordung des Leningrader Parteisekretärs Sergei Kirow nahm Stalin zum Anlass die Partei von Funktionären und Ministern zu „säubern“, die seiner Meinung nach die Opposition unterstützten. Es folgten die Jahre des Großen Terrors …

©  US Library of Congress, LC-USW33-019081-C / CC

Josef Stalin
Sergej Kirow
In den 30er Jahren erfreute sich Sergei Kirow, Mitglied des Politbüros und Anhänger Stalins, zunehmender Popularität bei seinen Parteigenossen und dem Volk. Dennoch wurde er an seinem Arbeitsplatz in Leningrad ermordet. Ob Stalin den Mord an seinem „Rivalen“ in Auftrag gegeben hat?

Mord in
Leningrad

alle Folgen, Staffel 3

Die 3. Staffel führt von Oberbayern über Sizilien nach Mississippi. Es werden wieder einige der spannendsten, aber auch grausamstem Morde des 20. Jahrhunderts besprochen. Steigen Sie ein in die Welt des History Crime!

Kurz & Knackig

Folge 4: Tod und Terror in Stalins Hofstaat

Niklas Miyakis: (unv. #00:00:48.5#) pa ruski, wir sprechen heute Russisch, Hannes. Herzlich willkommen, auch dir! #00:00:55.9#

Dr. Hannes Liebrandt: Hallo Niklas! #00:00:56.8#

Niklas Miyakis: Schön, dass du wieder dabei bist, aber was bleibt dir auch anderes übrig. Ich habe diese kurze Einleitung deshalb gewählt, weil mir ganz viele Menschen geschrieben haben, dass ich immer alles Französische falsch ausspreche und jetzt dachte ich mir, kann ich auch noch das Russische falsche aussprechen, macht dann auch nichts mehr. Nein, aber im Ernst, es gibt einen seriösen Grund, warum wir so eingeleitet haben. Wir reisen nämlich heute zurück in die russische Vergangenheit. Genauer genommen reisen wir an den Hof des roten Zaren, wie der Titel eines bekannten Buches zum Thema lautet. Wir reisen nämlich in das engste politische

Umfeld von Josef Stalin. Wir haben im Grunde heute, Hannes, zwei Fälle. #00:01:34.8#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja. #00:01:35.0#

Niklas Miyakis: Von denen aber kann man da, glaube ich, durchaus so sagen, nur einer offiziell ein Verbrechen ist, wir sprechen genauer genommen über ein Attentat zu Beginn. Ein Attentat, das eine grausame Welle des Terrors über die Sowjetunion brachte. Ein Attentat, das Auslöser für die Verfolgung und den Tod von Hunderttausenden von Menschen gewesen ist. Es geht um den Mord an einem äußerst beliebten Politiker. Und ich finde, man kann durchaus sagen, dass mit dem Tod dieses Politikers der Stern eines anderen aufgeht. Warum dieser aber am Ende auch Opfer der von ihm selbst ausgelösten Terrorwelle wird, auch darüber sprechen wir. Wir sprechen über den Tod von Sergei Kirow und Nikolai Jeschow, aber der Reihe nach. Dann gehen wir doch direkt in das Jahr 1934, Hannes. Im Mittelpunkt steht Sergei Kirow beziehungsweise der Mord an Sergei Kirow. Aber bevor wir in den Tattag eintauchen, vielleicht an dich die Frage: Wer ist denn das überhaupt? #00:02:33.2#

Dr. Hannes Liebrandt: Kirow gehörte ohne jeden Zweifel zum innersten Kreis der sowjetischen Führung, seit 1930 bereits Mitglied des Politbüros. Des Politbüros, um das besser zu verstehen, war eigentlich das höchste politische Führungsgremium innerhalb der Partei. Und ganz wichtig zum Zeitpunkt des Attentates war er eben Parteichef von Leningrad, das spätere und heutige auch Sankt Petersburg, das hieß damals Leningrad. Und fast noch wichtiger als die Tatsache, dass er Parteichef gewesen ist, war sicherlich auch die Nähe zu Stalin selbst. Also er war ein politischer Vertrauter Stalins, könnte man sagen. Er war wohl auch äußerst beliebt. Er ist ein äußerst beliebter Politiker, wobei man hier differenzieren muss, sicherlich nicht in ganzen Teilen der Sowjetunion, sicherlich auch nicht bei breiten Teilen der Bevölkerung, aber zumindest innerhalb der Partei. Er war sehr charismatisch, aber

ebenso auch ein Hardliner, ein Politiker vom Schlage Stalins, gewalttätig und auch rücksichtslos. #00:03:29.4#

I: Okay, ich glaube, das reicht fürs Erste. Wenn wir jetzt an diesen Tattag gehen, es ist der 1.12.1934, Sergei Kirow arbeitet, wie man heute sagen würde, im Homeoffice zunächst und geht dann am Nachmittag, wahrscheinlich an einem regnerischen Nachmittag, er hat nämlich eine Regenjacke getragen, geht er dann in sein Büro, in die Leningrader Parteizentrale. Ganz wichtig ist, er hat ganz viele Leibwächter grundsätzlich mit dabei, also bis zu sechs. An dem Tag ist aber nur einer mit im Schlepptau, zumindest beim Betreten der Parteizentrale. Der heißt Borisov, der ist relativ dicklich gewesen, Hannes. Das sage ich jetzt nicht, um ihn hier einfach grundlos abzuwerten, sondern das ist deshalb wichtig, weil das Büro von Kirow im dritten Stock liegt und er dort oben alleine ankommt, möglicherweise, weil der Leibwächter eben nicht schnell genug gehen konnte. Eine andere Erklärung ist allerdings auch, dass er möglicherweise von Geheimdienstmitarbeitern aufgehalten worden ist. Dazu aber später mehr. Wichtig ist, Kirow trifft jetzt im dritten Stockwerk alleine erstmal ein. Er geht dann über den Flur und passiert einen gewissen Leonid Nikolajew. Der lässt ihn zunächst vorbeigehen, dreht sich dann aber, als Kirow ihn passiert hat, dreht er sich um und schießt ihm aus etwa einem Meter Entfernung von hinten durch die Mütze in den Kopf. Den Schuss hört auch ein Elektriker, der dort auf dem Stockwerk gearbeitet hat. Der eilt dann zu Hilfe, verhindert noch, dass Nikolajew sich selbst richtet, also überwältigt den. Dann geht noch eine Kugel in die Decke, es brechen richtige, tumultartige Szenen aus. Kirow, ganz wichtig, ist wohl direkt tot, allerdings versuchen insgesamt drei Ärzte noch über eine Stunde ihn wieder zu beleben. Das spricht auch so ein bisschen für dieses Regime damals, die Angst, da ist jetzt so ein mächtiger Politiker ums Leben gekommen. #00:05:20.9#

Dr. Hannes Liebrandt: Richtig. #00:05:21.1#

Niklas Miyakis: Der muss doch irgendwie am Leben bleiben, sonst werden wir da noch irgendwie mit zur Rechenschaft gezogen. Aber vielleicht ein bisschen auch was zu dem Attentäter, Hannes. Wer ist denn das, Leonid Nikolajew? #00:05:30.4#

Dr. Hannes Liebrandt: Wir wissen eigentlich gar nicht so viel von diesem Nikolajew. Wir wissen, dass er 30 Jahre war zum Zeitpunkt des Attentates, ist ein junger Mann. Er stammte aus einer Arbeiterfamilie und war Schlosser. Und in dieser Funktion als Schlosser war er auch in mehreren Fabriken Leningrads tätig. Also er hat sich da durchgeschlagen, von Job zu Job, wurde dann auch zeitweise arbeitslos. Das ist auch wichtig dann für die Verzweiflung, die ihn dann auch zu diesem Attentat getrieben hat. Er war Parteimitglied, und es ist nun so, dass die Kommunistische Partei Personalakten führt über die Parteimitglieder. Und wenn man sich diese Personalakten anschaut, dann zeichnen die eigentlich das Bild von einem Querulanten, der sich irgendwie permanent bei Vorgesetzten beschwert hat. Der unter anderem auch Briefe geschrieben hat, und nicht nur an die unmittelbaren Vorgesetzten, sondern tatsächlich an Kirow und Stalin selbst. Es soll wohl aber nie eine Antwort auf diese Briefe erhalten haben. #00:06:26.0#

Niklas Miyakis: Wenn wir von Leningrad jetzt vielleicht mal nach Moskau reisen, Moskau … #00:06:30.9#

Dr. Hannes Liebrandt: … war erst eben die Hauptstadt, also Sankt Petersburg war es eben vor dem Ersten Weltkrieg, vor der Revolution, der Oktoberrevolution. Und mit dem Sieg der Bolschewiki, sage ich jetzt mal, im Rahmen der Oktoberrevolution, wird dann Moskau die Hauptstadt erst. #00:06:45.7#

Niklas Miyakis: Da weilt dann eben Josef Stalin, da ist sein Hof, wenn man so will, um diese Metapher wieder aufzugreifen. Der hört jetzt von der Nachricht des Todes seines Freundes Kirow, ist wohl auch relativ betroffen gewesen und entscheidet sich

direkt, mit engsten Vertrauten nach Leningrad zu reisen. Ganz wichtig, mit im Schlepptau ist der NKWD Chef Genrich Jagoda. #00:07:11.1#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja. Das sollten wir vielleicht ganz kurz klären, NKWD sagt wahrscheinlich nicht jedem was. Der NKWD war zum Zeitpunkt des Attentates das sogenannte Volkskommissariat für innere Angelegenheiten. Also einfacher formuliert, unter anderem auch die politische Geheimpolizei und der Geheimdienst waren eben innerhalb dieses NKWD gebündelt und in dieser Zeit bereits im In- und Ausland berüchtigt wegen der Skrupellosigkeit und auch der Verhörmethoden, zu denen wir jetzt noch gleich kommen werden. #00:07:40.2#

Niklas Miyakis: Ich finde ja auch, relativ skrupellos ist so die Anekdote, nachdem die da ankommen in Leningrad, da wartet jetzt der stellvertretende Leningrader Parteichef darauf, Stalin in Empfang zu nehmen, wartet also am Bahnhof. Und es ist wohl so gewesen, dass Stalin wortlos aus dem Zug aussteigt und den wie folgt in Empfang nimmt: Der schlägt ihm erst mal mit der Faust ins Gesicht. Er hat aber zumindest einen Handschuh getragen. #00:08:05.5#

Dr. Hannes Liebrandt: Da muss man sich die Szene mal vorstellen. Der Zug kommt an und der Chef steigt aus und schlägt dem erst mal ins Gesicht. Ja, das ist ein politisches Klima, das da natürlich herrschte. #00:08:14.7#

Niklas Miyakis: Stalin reist dann eben mit Gefolgschaft erst mal ins Krankenhaus, um den Leichnam zu besichtigen. Und dann fährt man in die Parteizentrale, wo ja auch der Mord stattgefunden hat, wo das Attentat gewesen ist, um sich ein Bild vom Stand der Dinge zu machen. Auch da, Hannes, wir haben ja jetzt schon ein bisschen so dieses raue Klima, diese beängstigenden Szenen so ein bisschen gehört. Aber auch da, wo die dann eben in der Parteizentrale ankommen, müssen sich irgendwie richtig tatsächlich beängstigende Szenen abgespielt haben. #00:08:45.4#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja, absolut. Ein Mitarbeiter der Leningrader Parteizentrale, der war da zu dem Zeitpunkt eben im Haus, der erinnert sich dann nachträglich. Und ich lese mal ganz kurz aus diesen Erinnerungen vor: „Es war im Hauptkorridor. Ich sehe eine Gruppe von Personen kommen. Ich sehe in der Mitte Stalin. Vor Stalin ging Genrich Jagoda“, also der Chef des NKWD, haben wir gerade angesprochen, „her mit einem Revolver in der erhobenen Hand, und er gab das Kommando: Alle mit dem Gesicht zur Wand! Hände an die Hosennaht!“ #00:09:15.5#

Niklas Miyakis: Ja. Also da kriegt man direkt ein bisschen Gänsehaut und ich finde, man kann sich super vorstellen irgendwie, … #00:09:23.0#

Dr. Hannes Liebrandt: … das Klima der Angst einfach da auch herrschte. #00:09:25.1#

Niklas Miyakis: Ja. Stalin und seine Gefolgsleute haben natürlich dann auch die ganze Etage des Parteigebäudes blockiert. Und interessant ist auch, er hat wohl das Verhör dann selbst übernommen. Da gibt’s dann auch ganz unterschiedliche Schilderungen, wie das abgelaufen ist. Da ist die Quellenlage zwar gar nicht so schlecht, aber müssen wir vielleicht auch ein bisschen mit Vorsicht genießen, weil das natürlich alles Politbüromitglieder gewesen sind. #00:09:47.2#

Dr. Hannes Liebrandt: Richtig. #00:09:46.8#

Niklas Miyakis: Und wie authentisch dann diese Aussagen oder diese Quellen sind, schwierig, würde ich sagen. Aber zum Beispiel soll sich Nikolajew eben Stalin vor die Füße geworfen haben und alles bereut haben und so weiter und so fort. Ich finde, dann besonders abenteuerlich wird es auch, als man auf die Aussage des Leibwächters wartet, Borisov. #00:10:06.5#

Dr. Hannes Liebrandt: Borisov. Ja. #00:10:07.5#

Niklas Miyakis: Weil der kommt unmittelbar vor der Parteizentrale bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Da hat wohl irgendwie der Beifahrer noch ins Lenkrad gegriffen. Umstände sind relativ unklar, aber der Leibwächter stirbt, bevor er aussagen kann. #00:10:21.1#

Dr. Hannes Liebrandt: Das ist wieder so richtiges Futter für irgendwelche Verschwörungstheorien, die ja dann in Folge auch aufkommen. #00:10:26.4#

Niklas Miyakis: Absolut. Ja. #00:10:27.5#

Dr. Hannes Liebrandt: Und wichtig ist, anstatt diese Umstände wirklich aufzuklären, also diese Umstände des Attentates, sucht man die Täter quasi überall und nirgends. Also man hat nicht gedacht oder nicht geglaubt, dass es irgendwie ein Einzeltäter war, sondern man hat natürlich gleich irgendwie eine Verschwörung vermutet oder wollte vielleicht auch eine Verschwörung dahinter sehen. Man fabulierte und insbesondere auch Stalin selbst fabulierte da von ausländischen Geheimdiensten irgendwie, die den Attentäter nur als Werkzeug verwendet hätten, um die Sowjetunion zu destabilisieren. Es gab zahlreiche Vermutungen, die sich dann wirklich bis zu Verschwörungstheorien entwickelten, in Leningrad selbst und natürlich weit darüber hinaus. Nämlich dieses Attentat, da brauchen wir uns ja kein Bild davon machen, wurde natürlich dann ab dem nächsten Tag, ab dem gleichen Tag eigentlich schon landesweit und europaweit verkündet. #00:11:19.0#

Niklas Miyakis: Du hast jetzt kurz auch schon von Stalin und seinen Spekulationen gesprochen. Aber was macht der ganz generell? Glaubt der, dass es ein Einzeltäter gewesen ist? Glaubt der an einen Komplott? Ja okay, er hat wohl am Anfang da auch ein bisschen in die Richtung ausländischer Geheimdienst, aber wen vermutet er relativ schnell hinter der Tat? #00:11:38.4#

Dr. Hannes Liebrandt: Es wechselt sich wirklich so ein politischer Rundumschlag ab mit gezielten Anschuldigungen von politischen Feinden, von Oppositionellen, mit denen man irgendwie schon längst im Clinch lag. Man vermutete Verschwörer, Klassenfeinde, und ganz konkret Kamenew und Sinowjew. Das waren ehemalige Weggefährten Stalins, die bildeten damals so ein Triumvirat, würde man sagen, also Stalin, Kamenew und Sinowjew gegen Trotzki, der ja dann ins Exil auswandern musste. #00:12:10.3#

Niklas Miyakis: Das sollte man kurz erklären. Nach Lenins Tod großer Machtkampf, insbesondere Stalin gegen Trotzki. Und dieses Triumvirat tut sich jetzt zusammen und kämpft eben gemeinsam gegen Trotzki. Trotzki ist zum Zeitpunkt des Attentates 1934 längst im Exil. #00:12:28.7#

Dr. Hannes Liebrandt: Genau. #00:12:29.1#

Niklas Miyakis: Und jetzt richtet Stalin … #00:12:31.5#

Dr. Hannes Liebrandt: … aus Freunden werden Feinde, könnte man eigentlich sagen. Richtig. Der Zorn kanalisiert sich dann gegen Sinowjew und Kamenew, gegen die ehemaligen Weggefährten. #00:12:40.5#

Niklas Miyakis: Könnte man dann auch, lass uns mal da ruhig ein bisschen weiter spekulieren, könnte es denn auch so gewesen sein, dass Stalin möglicherweise den Mord oder dieses Attentat selbst in Auftrag gegeben hat? #00:12:51.5#

Dr. Hannes Liebrandt: Uns bleibt nicht viel weiteres übrig, als zu spekulieren, weil die Quellenlage dazu nicht eindeutig ist, ganz im Gegenteil. Es gibt gewisse Indizien

sicherlich, aber zu diesen Indizien zählt auch, dass der spätere Parteichef Nikita Chruschtschow, den man, glaube ich, auch kennt, wenn man sich ein bisschen mit Kalter Krieg, Kubakrise auseinandersetzt, der die Geschicke der Sowjetunion zu dieser Zeit geleitet hat, der stellt nun eben diese Behauptung auf, dass es Stalin selbst gewesen sei, der Kirow ermordet hat. #00:13:19.7#

Niklas Miyakis: Aber es gibt durchaus eine Quelle, die etwas anderes sagt, und das ist keine geringere … #00:13:24.4#

Dr. Hannes Liebrandt: … als die Tochter. #00:13:25.3#

Niklas Miyakis: … als Stalins Tochter Swetlana Allilujewa. #00:13:27.7#

Dr. Hannes Liebrandt: Richtig. Die hat Memoiren verfasst, würde man sagen. Sie hat auch versucht, den Werdegang und auch so ein bisschen Psychogramm von Stalin zu entwerfen. Das ist natürlich auch etwas mit Vorsicht zu genießen, also wenn man diesen Quellenwert betrachtet. #00:13:41.1#

Niklas Miyakis: Du kannst auch ein Psychogramm von mir entwerfen, Hannes, weil ich diese Memoiren bei mir zu Hause hatte, was ich gar nicht wusste. In der Recherche für den Podcast haben wir halt Literatur logischerweise gesucht und habe ich irgendwie dieses Buch gefunden. Ich kann dir beim besten Willen nicht mehr sagen, warum ich mir das mal gekauft habe. #00:13:55.3#

Dr. Hannes Liebrandt: Aber vielleicht entscheidend jetzt für das heutige Attentat ist folgender Auszug aus diesen Memoiren. Ich lese einfach mal kurz vor: „Kirow wohnte bei uns im Haus. Er gehörte dazu, er war ein Freund, ein alter Kamerad. Vater liebte ihn und war ihm wirklich zugetan. Im Sommer 1934 war es das Gleiche. Kirow wohnte bei uns in Sotschi. Und im Dezember fiel dann Nikolajews Schuss. Dass

Vater an diesem Tod eine Mitschuld trifft, werde ich niemals glauben. Kirow war sein intimer Freund, den er brauchte.“. #00:14:28.6#

Niklas Miyakis: Jetzt könnte man sagen, Fakt ist, Nikolajew hatte als Einzeltäter, also sollte es ein Einzeltäter gewesen sein, auf jeden Fall ein Motiv, war frustriert, war arbeitslos, hatte mehrere Bittsteller-Briefe geschrieben, nie eine Antwort bekommen. Aber er wird dann ja auch zum Tode verurteilt und hingerichtet. Das wird eigentlich nie so richtig in Betracht gezogen in der damaligen Zeit. #00:14:53.4#

Dr. Hannes Liebrandt: Nein. Das will man vielleicht auch überhaupt nicht wissen, dass das wirklich nur die Tat eines Einzelnen war. Man wollte politisches Reinemachen dann auch betreiben. #00:14:59.9#

Niklas Miyakis: Was zumindest für eine Verschwörung im Kleinen, wenn du so willst, schon damals gesprochen hat, oder andersrum formuliert, nicht gesprochen, sondern wie man es versucht hat zu inszenieren, das zeigt, dass auch 13 Menschen aus dem Umfeld von Nikolajew direkt mit in Sippenhaft, muss man tatsächlich sagen, genommen werden und auch alle ums Leben kommen. #00:15:22.2#

Dr. Hannes Liebrandt: Richtig. #00:15:22.8#

Niklas Miyakis: Hannes, mit Blick auf den Stalinismus, mit Blick auf den Terror und den Mord an Kirow: Wieso ist dieser 1. Dezember 1934 so entscheidend? #00:15:33.1#

Dr. Hannes Liebrandt: Wir haben uns für den Mord, für das Attentat auf Kirow entschieden, weil es doch eine ganz sichtbare Zäsur bedeutet. Nämlich der Terror richtet sich in der Folgezeit, also nach diesem Attentat, vermehrt und sichtbar auch nach innen in die bolschewistische Führung hinein, gegen ehemalige Gefolgsleute,

gegen Oppositionelle sowieso, aber jetzt auch wirklich politisch Freund und Feind. Stalin nutzte das eben, um Gegenspieler oder eben auch, aus seiner Sicht, die zu mächtig geworden sind, auszuschalten. Er hatte vielleicht Wahnvorstellungen, dass er überall Verrat sah. Und nach diesem Attentat wurden eben zahlreiche NKWD, also Geheimdienstleute, die irgendwas mit dem Fall zu tun hatten, systematisch ermordet. Also hier sehen wir, die Terrorwelle richtet sich nach innen. #00:16:26.7#

Niklas Miyakis: Absolut. #00:16:26.8#

Dr. Hannes Liebrandt: Und das ist mit Kirow eigentlich eine ganz entscheidende Zäsur. #00:16:30.8#

Niklas Miyakis: Und dieses nach innen richten äußert sich dann auch ganz prominent in den sogenannten großen Schauprozessen, die 1936 dann losgehen. Und da sind jetzt unter anderem angeklagt die vorhin schon besprochenen Sinowjew und Kamenew. #00:16:45.2#

Dr. Hannes Liebrandt: Richtig. Es gab drei dieser Schauprozesse. Du hast gerade Sinowjew und Kamenew, also da hat sich wirklich so die Rache erst mal kanalisiert. #00:16:53.2#

Niklas Miyakis: Und insgesamt waren es vier. Einer hat unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden. #00:16:56.3#

Dr. Hannes Liebrandt: Stimmt, ja, richtig, genau. #00:16:56.6#

Niklas Miyakis: Der richtete sich dann gegen das Militär. Auch die wichtige Offiziere, eigentlich das ganze Offizierskorps wurde im Grunde ausgeschaltet. #00:17:04.3#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja. Und Sinowjew und Kamenew waren jetzt nun die Hauptangeklagten, würde man sagen, in diesem ersten Schauprozess. Es traf also ehemalige Weggefährten, die zu mächtig wurden. Das hatte ich ja schon gesagt. Und später kam auch Jagoda, also der NKWD-Chef selbst, der wurde im dritten Schauprozess dann angeklagt. #00:17:23.0#

Niklas Miyakis: Also er hatte die ersten Schauprozesse selber mit vorbereitet und wurde dann im dritten selber angeklagt. #00:17:27.3#

Dr. Hannes Liebrandt: Genau, richtig. #00:17:28.2#

Niklas Miyakis: Das ist ja auch schon wieder irre. #00:17:30.0#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja. Und teils hanebüchene Vorwürfe, Niklas, kannst du dir nicht vorstellen, also wenn man da etwas in den Quellen und der Literatur liest. Sie sollten natürlich Mitverschwörer nennen. So wie man das immer kennt oder wie das immer so ein Prinzip ist von solchen Verhörmethoden, von solchen Staaten. Man hätte angeblich geplant, Stalin zu ermorden. Man sei von Auslandsgeheimdiensten gesteuert, man agiere im Dienste Trotzkis, der so immer dieses große Feindbild immer noch darstellte. #00:17:56.8#

Niklas Miyakis: Sogenannte Trotzkisten, hat man das dann genannt. #00:17:58.3#

Dr. Hannes Liebrandt: Richtig, Trotzkisten. Oder man sabotiere die eigene Industrieproduktion, man sei verantwortlich für die Rückständigkeit und, und, und. Und das wurde den Leuten vorgeworfen und das mussten sie unterschreiben und

das mussten sie öffentlich, deswegen auch Schauprozess, öffentlich zugestehen. #00:18:12.7#

Niklas Miyakis: Gewalt bricht sich ja auch immer Bahnen in Sprache, finde ich. Und wenn man sich anschaut, welche Sprache der Richter in diesen Schauprozessen, welche Sprache der benutzt, da wird schon relativ klar, in welcher Zeit wir leben. Er spricht nämlich von räudigen Hunden, die es zu erschießen gilt, bis die Welt vom letzten Schmutz und Unrat der Vergangenheit gereinigt sei, mit Blick auf Sinowjew und Kamenew. Und Stalin soll wohl auch gewissermaßen das Drehbuch für diesen Prozess geschrieben haben. Es ging eigentlich um die Erniedrigung, um die Demütigung dieser Angeklagten. Was ich mich dann allerdings frage und sicherlich auch unsere Hörerinnen und Hörer: Welchem Zweck dient dann so ein Schauprozess? Warum lässt man Todgeweihte noch am Leben? Warum müssen die jetzt öffentlich gedemütigt werden? Warum tut man das alles? Man hätte sie ja auch einfach gleich erschießen können. #00:19:05.0#

Dr. Hannes Liebrandt: Ich glaube wirklich, dass man diese Frage leicht beantworten kann sogar. Das ist selten, dass man in der Geschichte das vielleicht oder relativ deutlich beantworten kann. Es geht sicherlich um die Disziplinierung der eigenen Gefolgschaft. Also bedingungslose Treue gegenüber Stalin oder Folter und Tod, könnte man so als Motto darstellen. Diese Disziplinierung der Parteielite kann man als entscheidendes Motiv ansehen, deswegen auch die Öffentlichkeit. Und deswegen tatsächlich auch dieses öffentliche Eingestehen. Das ist dann ganz wichtig in dieser Denkweise. #00:19:41.6#

Niklas Miyakis: Und mit diesem öffentlichen Eingestehen konnte Stalin beziehungsweise sein Terrorapparat konnte dann ja auch im Grunde zeigen, die haben ja gestanden, seht her, da sind sie ja die Feinde. #00:19:52.2#

Dr. Hannes Liebrandt: Richtig. Und Stalin konnte sich als den großen Retter darstellen. Es gab innere Feinde, es gibt innere Feinde und er hat eben diese inneren Feinde beseitigt. Und beseitigt ist jetzt ein hartes Wort, das natürlich in diesem Kontext unpassend ist, aber in dem Fall sind diese Angeklagten, unter anderem Sinowjew und Kamenew, direkt nach Urteilsverkündung erschossen worden. #00:20:14.3#

Niklas Miyakis: Was würdest du sagen, ich sag das jetzt mal ganz salopp, Stichwort Präventivschlag, aus Sicht von Stalin jetzt wohlgemerkt, welche Rolle spielte da, dass möglicherweise Menschen auch zu mächtig geworden sind und dass er dann dachte, ich schlag jetzt lieber präventiv gegen die, würde ja auch dann wieder dafürsprechen, dass Kirow umgebracht worden ist, tatsächlich durch einen Auftrag von Stalin. Aber es wird ja zum Beispiel auch Jagoda dann, hattest du ja schon gesagt, angeklagt. Also welche Rolle hat das möglicherweise dann auch gespielt, dass die zu mächtig geworden sind? #00:20:46.6#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja, natürlich spielte das eine Rolle. Jagoda hast du ja gerade angesprochen, er wird ja auch später dann selbst angeklagt. Sein Stern sank eigentlich offiziell, weil er diese angeblichen Trotzkisten im Rahmen des ersten Schauprozesses nicht gefunden hatte. Und sein Nachfolger wurde dann Jeschow, und da kommen wir dann auch zum zweiten Teil unseres heutigen Podcasts, der diese Konstruktion einer großangelegten Verschwörung eigentlich inszeniert hatte. Er war der Regisseur dahinter, könnte man sagen. #00:21:17.5#

Niklas Miyakis: Also Hannes, ich verbessere dich ja ungern, aber nicht genügend Trotzkisten gefunden hatte, müsste man genauer sagen, weil Sinowjew und Kamenew natürlich auch als Trotzkisten gehalten, aber es wurde Jagoda, glaube ich, auch unter anderem mit vorgeworfen, dass er nicht genügend dieser Verschwörungsmitglieder sozusagen gefunden hat. #00:21:37.2#

Dr. Hannes Liebrandt: Richtig. Und er wird dann in diesem letzten, als im letzten großen Schauprozess, in diesem dritten, angeklagt, gestand dann unter anderem auch unter Androhung von Folter und auch tatsächlicher Folter, dass er nämlich angeblich einen Putschversuch gegen Stalin und die Bolschewiki geplant hätte und durchführen wollte. #00:21:55.3#

Niklas Miyakis: In dieser Zeit war ja, und das hatte ich auch in der kurzen Anmoderation ja schon angedeutet, war Nikolai Jeschow schon ins engere Vertrauen, in den engsten Vertrauten-Kreis von Stalin vorgerückt. Der war eigentlich sowas wie der Assistent von Jagoda, das ist jetzt sehr vereinfacht ausgedrückt, und der ist jetzt sozusagen damit beauftragt, seinen eigenen Chef zu denunzieren, und das macht er auch relativ erfolgreich. Er wirft ihm unter anderem vor, dass Jagoda ihn, Jeschow, habe umbringen wollen, angeblich hätte er die Gardinen seines Büroraumes mit Quecksilber besprüht. Und Jeschow lässt jetzt Jagoda eben verhaften. Und was ich da besonders makaber gefunden habe, der eignet sich jetzt eine ganz bestimmte Devotionalie an. Jagoda hatte nämlich die Patronenhülsen, mit denen man Kamenew und Sinowjew hingerichtet hatte, die hatte der sich aufbewahrt, ich glaube, in seinem Büro, und die eignet sich jetzt Jeschow an. Sehr makaber, wie ich finde. Wir sprechen jetzt in unserem zweiten Teil dann über den wirklich dann großen Terror, der durch die NKWD-Chef-Zeit von Jeschow ausgelöst wird. Deswegen wird diese Zeit im russischen Volksmund auch Jeschowina genannt. Aber bevor wir das machen, ist es, glaube ich, ganz wichtig, dass wir hier einen kleinen Cut machen und eine kleine Reise noch weiter in die Vergangenheit machen, nämlich in die des Zarenreiches, in die der revolutionären Unruhen, weil das, glaube ich, relativ wichtig ist, um zu verstehen, was Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili, wie er ja eigentlich heißt, Georgier, was das für ein Mensch ist, was aber auch so einer wie Nikolai Jeschow für ein Mensch ist. Weil die werden eben dort sozialisiert, machen dort ihre Gewalterfahrungen, deswegen sollten wir in diese Zeit vielleicht einmal zurückreisen. #00:23:47.8#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja, Niklas, und dieser Abstecher, dieser kurze Abstecher, muss man sagen, führt uns in eine Zeit, in der eben Jeschow und Stalin

aufgewachsen sind. Und wir wollen es nicht zu breit ausführen, aber es ist doch ganz wichtig zu verstehen, dass Russland zu der Zeit, insbesondere vor dem Ersten Weltkrieg, kein moderner Staat war, kaum industrialisiert, als rückständig betrachtet wurde. Und viele Bauern, die natürlich in diesem riesigen Reich lebten, hatten ja überhaupt kein Verständnis von modernen Staats- und Regierungsformen, geschweige denn von irgendwelchen aufklärerischen Idealen. #00:24:15.9#

Niklas Miyakis: Also kaum industrialisiert das Zarenreich. Und es ist eben das Dorf, was die Mentalität dieses riesigen Reiches prägt. Es ist die Dorfgemeinschaft, in der auch Recht gesprochen wird, auch das ist ganz wichtig. #00:24:28.1#

Dr. Hannes Liebrandt: Ganz wichtig. Ja. #00:24:28.2#

Niklas Miyakis: Und aus diesem Umfeld kommen eben die von dir aufgezählten Magnaten, unter anderem eben Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili, Josef Stalin, 80 Kilometer nordwestlich von Tiflis in Gori aufgewachsen. Ich glaube, der Vater ist Schuster gewesen. Und in einem solchen Umfeld spricht man natürlich auch später nicht die Sprache von Marx und Engels. Ganz anders also solche Figuren zu betrachten als Lenin oder auch Trotzki. Ich würde das mal ganz salopp formulieren, am Hof des roten Zaren haben mit Sicherheit keine theoretischen Lesezirkel stattgefunden. #00:24:59.6#

Dr. Hannes Liebrandt: Nein, man sprach eigentlich eher die Sprache der Gewalt. Und diese Sprache der Gewalt kannte man eben aus der eigenen Naherfahrung, aus den Dörfern, hast du ja gerade letztendlich gesagt. Und das ist im Übrigen auch die Gewalt gewesen, mit der sich die Bolschewiki 1917 in der Oktoberrevolution letztlich durchgesetzt haben. Und genau das repräsentierten eben Stalin, Jeschow aus der eigenen Naherfahrung. Lenin und Trotzki vielleicht auch, aber eben bei weitem nicht in diesem Ausmaß. #00:25:30.9#

Niklas Miyakis: Ich finde ja auch, wenn wir jetzt auf so Stalin oder Jeschow blicken, das sieht man relativ gut an der äußeren Erscheinungsform. Die haben ja schon irgendwie so ausgesehen wie so Gangster, wenn du so willst. Die haben irgendwie so komische Militärstiefel getragen, hatten so keine edle Uniform, zumindest nicht an normalen Tagen keine Uniform, sondern irgendwie so ein bisschen so eine bäuerlich geprägte Kleidung, haben Revolverhalfter getragen. Sahen irgendwie so ein bisschen aus wie so kaukasische Cowboys, wenn du so willst, wenn das jetzt eine richtige Metapher ist. Aber ich finde, weißt du, was ich meine, so dieses Verrohte … #00:26:10.4#

Dr. Hannes Liebrandt: Natürlich. #00:26:10.9#

Niklas Miyakis: … sieht man auch so ein bisschen am äußeren Erscheinungsbild. #00:26:12.7#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja. Wenn man sich mehrere Bilder anschaut, sieht man das ganz eindeutig auch. #00:26:16.5#

Niklas Miyakis: Und dieser Schlag Menschen übernimmt natürlich jetzt auch das aus dem Dorf geprägte System von Blutrache, von Fehden. Und da gibt’s ein ganz interessantes Zitat, was Stalin mal bei einem Abendessen getätigt haben soll, wo man relativ gut sieht, das hatten wir ja auch schon, dass sich Gewalt eben nie gegen das beschuldigte Individuum alleine richtet, sondern, auch das aus der Dorfgemeinschaft vielleicht so ein Stück weit mitgenommen, gegen die ganze Sippe, gegen eben das Kollektiv. Er soll nämlich gesagt haben, Moment, ich muss es gerade raussuchen, er soll gesagt haben, dass jeder, der es wagte, auch nur in Gedanken, ja, in Gedanken den Staat in Frage zu stellen, ein Volksfeind sei und mit seiner gesamten Sippe ausgerottet werden müsse. #00:27:07.5#

Dr. Hannes Liebrandt: Und das war genau diese Funktionslogik, die du grad ansprichst, die eben auch Stalins Macht legitimierte. Überall wurden Feinde gesucht, und das Denunziantentum wurde zu einer Art Volkssport. Und das ist natürlich dann der Teufelskreis gewesen, jeder konnte jeden irgendwie anzeigen, jeder hat jeden verdächtigt. Und was man vielleicht auch noch dazu sagen sollte, ich möchte nicht, dass der Eindruck entsteht, dass wir das zu stark oder ausschließlich auf Stalin fokussieren. Es waren ja vor allen Dingen eben auch die Kollektive, also die Täterkollektive dahinter, die diesen Terror maßgeblich auch inszenierten. Also es war nicht nur das Produkt von Stalins Willen. Und sie schafften damit auch selbst den Strudel, in den sie dann später auch hineingerissen wurden. #00:27:48.7#

Niklas Miyakis: Das sehen wir ja dann gleich bei Nikolai Jeschow. Aber das ist natürlich ein ganz wichtiger Punkt, wir wollen gar nicht so krass vereinfachen, aber vielleicht ist trotzdem ganz interessant, auch so ein bisschen in die Konstitution von Josef Stalin mal kurz einzutauchen, weil auch da gibt’s eine relativ schöne Passage in den Memoiren seiner Tochter. Vielleicht kannst du die kurz vorlesen, weil die zeigt uns recht gut, was so die Beschaffenheit von ihm selbst auch angeht, finde ich. #00:28:11.5#

Dr. Hannes Liebrandt: Das ist jetzt eine etwas längere Passage als vorhin, aber wirklich sehr wichtig. Da heißt es nämlich mit Blick auf Stalin, ich zitiere: „Hatten aber die Tatsachen den Vater einmal überzeugt, dass ein ihn von früher her gut bekannter Mensch sich als Schädling erweise, dann kam es bei Vater zu einer Art psychologischer Metamorphose. Hatte man einmal dem zugestimmt, dass N ein Feind sei, da musste man auch notwendigerweise zugeben, dass wenn das eine stimmte, auch das andere zutraf. Umzukehren und etwa wieder zu glauben, dass N kein Feind, sondern ein ehrlicher Mensch sei, das wäre für ihn psychologisch unmöglich gewesen. Die Vergangenheit wäre für ihn ausgelöscht und daraus kam eben auch die ganze Unerbittlichkeit, Härte und Grausamkeit seines Wesens. Das Vergangene, das gemeinsam Erlebte, der gemeinsame Kampf für die eigene Sache, die langjährige Freundschaft, das alles war, als ob es nie gewesen wäre. Es wurde ausgelöscht, ausgestrichen, und der Mann war verurteilt, verloren.“. #00:29:12.4#

Niklas Miyakis: So schwach, wie ihr Vater hier geschildert wird von der Tochter, ist er wohl nicht gewesen. Aber ich finde, es zeigt relativ gut, Hannes, wie unwiderrufbar doch das einmal gefällte Urteil bei Stalin gewesen ist. #00:29:27.5#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja, absolut. #00:29:27.9#

Niklas Miyakis: Also hatte man einmal seine Loyalität eingebüßt, hatte man einmal seine Gunst verspielt, dann wurde man samt seiner gesamten Sippe, seiner gesamten Gefolgschaft vernichtet. Das war irgendwie nicht mehr widerrufbar. Es ging darum, die ganze Struktur zu zerstören, wenn du so willst. Es ging darum, dass Stalin seine Macht wiederherstellte. #00:29:48.7#

Dr. Hannes Liebrandt: Richtig. #00:29:50.2#

Niklas Miyakis: Ich finde, eine relativ gute Perspektive, wir hatten ja schon vorhin das Buch „Am Hof des roten Zaren“, der Historiker, der das geschrieben hat, heißt Simon Sebag Montefiore, wenn ich das jetzt richtig ausspreche. Und der hat gesagt, also jetzt nicht wortwörtlich: Aus der Perspektive Stalins war ein Terrorist einer, der an Stalin zweifelte. Mehr als zwei Terroristen bedeuteten eine Verschwörung. Und wenn man sich das jetzt einfach mal vor Augen führt, dann waren natürlich überall Verschwörungen. #00:30:17.7#

Dr. Hannes Liebrandt: Richtig. Genau. #00:30:18.4#

Niklas Miyakis: Solche Verschwörungen wurden ganz maßgeblich von einer Person in Szene gesetzt in der Zeit, in der wir über den großen Terror sprechen. Und das war eben Nikolai Jeschow, über den wir jetzt in unserem letzten Teil der heutigen

Episode kurz sprechen wollen. Nicola Jeschows Hauptaufgabe als Chef des NKWD, könnte man sagen, bestand darin, Feinde aufzuspüren und diese Feinde eben Stalin auf dem Präsentierteller zu servieren. Hannes, ich muss kurz, kleiner Einschub, ich mag ja bei dem russischen Wesen dieses Spitznamentun, kennst du vielleicht auch. Das war auch relativ verbreitet am Hof des roten Zaren. Die haben sich gerne gegenseitig Spitznamen gegeben. Nikolai Jeschow wurde zum Beispiel Brombeere genannt. Das war so ein Wortspiel mit seinem Nachnamen. Ich glaube, Brombeere heißt auf Russisch Jeschewika. Mein Lieblingsspitzname dieser Magnaten damals ist aber der von Molotow, der vielleicht auch noch bekannt ist als Außenminister der Bolschewiki, der wurde nämlich Eisenarsch genannt, weil er wohl so viel rumsaß, also wegen seines Sitzfleisches Spitzname Eisenarsch. #00:31:27.2#

Dr. Hannes Liebrandt: Aber dieser Jeschow hatte auch noch einen zweiten Spitznamen. Ich glaube, dieser zweite Spitzname trifft dann den Kern seines Wesens noch stärker, und zwar blutrünstiger Zwerg. #00:31:38.7#

Niklas Miyakis: Hannes, es ist ja kein Geheimnis, dass ich auch nicht unbedingt der Größte bin. Also musst du aufpassen, die kleinen Menschen. #00:31:46.0#

Dr. Hannes Liebrandt: Aber er war nur 1,51 Meter und Niklas, ich kenn dich, du bist doch etwas größer als 1,51 Meter. #00:31:51.5#

Niklas Miyakis: Die schaffe ich gerade so, schaffe ich gerade so die 1,51 Meter. #00:31:54.9#

Dr. Hannes Liebrandt: Und dieser Jeschow, deswegen auch dieser Spitzname, er war natürlich brutal, auch gewalttätig, und er verfügte ebenso wie die anderen auch über engere Verbindung zu Stalin, sonst wäre er überhaupt nicht in diese Funktion gekommen. Er besetzte den NKWD mit eigenen Leuten, ließ die Anhänger von Jagoda systematisch verhaften und verfolgte eben auch die Parteiführer in den

Provinzen. Und diese regionalen Parteichefs, die wurden gezwungen, ihre eigenen Stellvertreter ans Messer zu liefern, verhaften zu lassen. Der Terror richtet sich aber nicht nur gegen die eigene Partei, sondern eben auch gegen das Militär. Jetzt beginnen die großen Säuberungen in der Roten Armee und deswegen nimmt dieser große Terror, über den wir jetzt sprechen, noch mal eine ganz neue Dynamik ein. #00:32:40.3#

Niklas Miyakis: Nur, um das noch mal klar zusammenzufassen, Hannes, also regionaler Parteichef bekommt jetzt einen Anruf: Bei dir gibt’s eine Verschwörung. Und dann sagt der: Nein, bei mir gibt’s keine Verschwörung. Doch, doch. Bei dir gibt’s eine Verschwörung, Du nennst uns jetzt Namen. Und wenn du keinen Namen nennst, dann hast du ein Problem. Wenn man sich das mal, also um Gottes willen, ich will das gar nicht auf die Gegenwart versuchen zu übertragen, aber nur von der Logik her, man würde jetzt, ihr arbeitet ja wahrscheinlich alle in einem Betrieb oder geht zur Uni, noch zur Schule, ihr arbeitet alle überall oder tut etwas, wo man Menschen anschwärzen kann. Und dieses Verschwörungs-Denunziantentum, das spricht sich ja auch rum. Das heißt, man fängt dann ja auch an, zum Vorgesetzten zu gehen und zu sagen, der oder die hat das und das angeblich getan. Und dann hat der Vorgesetzte eben auch Namen, die er liefern kann und so weiter und so fort. Das alles zusammen, das ist ja ein System des gegenseitigen Misstrauens, das muss zu einem wahnsinnigen Chaos geführt haben. #00:33:41.2#

Dr. Hannes Liebrandt: Auf jeden Fall. #00:33:42.9#

Niklas Miyakis: Aber zurück zum großen Terror. #00:33:45.0#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja. Das war eben ein großes Merkmal von dieser Terrorwelle. Und die wurde dann noch stärker radikalisiert oder in eine noch radikalere Phase übergegangen, als es dann wirklich Todeslisten gab und Todesquoten, die von Stalin auch eigenhändig unterschrieben wurden. Allein an

einem einzigen Tag im Dezember 1938 soll Stalin persönlich 3167 Menschen in den Tod geschickt haben. Und das ist jetzt nur ein Beispiel, das ich jetzt hier herausgegriffen habe. Und hier sehen wir auch, wie stark Stalin dann in dieses Mordgeschehen verwickelt gewesen ist. #00:34:19.8#

Niklas Miyakis: Man muss ja dazusagen, wir sprechen heute auch nur über eine, mit dem großen Terror nur eine Episode des Stalinismus, aber es gab natürlich noch ganz viele andere Dinge, weshalb relativ viele Menschen dem Stalinismus am Ende dann auch zum Opfer gefallen sind. Lass uns bei diesem großen Terror, wir können das nicht weiter im Detail thematisieren, aber wie viele Menschen allein zwischen 1937, 1938 sind denn diesen Parteisäuberungen dann zum Opfer gefallen? #00:34:47.5#

Dr. Hannes Liebrandt: Der NKWD spricht von circa 700.000 Menschen. Diese Zahlen sind natürlich immer etwas mit Vorsicht zu genießen, weil es wirklich keine systematische Erfassung gab, die wir jetzt irgendwie überprüfen können. Aber die Dimension kann man sicherlich erahnen. #00:35:02.1#

Niklas Miyakis: Darf man als Historiker eigentlich nicht zugeben, aber ich habe im Vorfeld jetzt auch vorhin noch mal kurz bei Wikipedia geguckt, um das ganz schnell zusammenzufassen. Da ist von 1,5 Millionen Verhaftungen die Rede zwischen 1937, 1938, wovon die Hälfte erschossen worden sein soll. Gut, kurz zur Person Nikolai Jeschow auch noch mal ein paar Worte, Hannes, der wirklich ein Schlächter gewesen ist. Äußerst brutal, haben wir gesagt, hat sich auch ein eigenes Schlachthaus eingerichtet. Die Häftlinge wurden mit einem schwarzen Raben auf den Hof gebracht. Dort war so ein glatter, abfallender Steinboden, der hat dann zu einer Holzwand geführt, und da hat man dann wohl die zum Tode Geweihten aufgestellt, per Genickschuss hingerichtet. Unten war so ein eigenes Schlauchsystem, damit man da schön durchreinigen konnte. Also auch irgendwie, wenn man sich das vorstellt, irgendwie eine ganz brutale Szenerie. #00:35:57.9#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja. Und auch ein industrielles Morden. Und Jeschow verteidigte diese Massaker oder diese Verbrechen überhaupt nicht. Er versuchte es ja auch gar nicht zu erklären, aber er äußerte sich darüber. Ich zitiere mal ganz kurz aus einer dieser Passagen: „In diesem Kampf gegen die Agenten des Faschismus kann es auch unschuldige Opfer geben. Wir führen eine Großoffensive gegen den Feind, niemand soll sich grämen, wenn unsere Bajonette die falschen treffen. Besser zehn Unschuldige leiden, als dass ein Spion ungestraft davonkommt. Wo gehobelt wird, da fallen Späne.“. Das nannte man wohl Kollateralschäden, die auch bewusst von Jeschow einkalkuliert gewesen sind. #00:36:37.0#

Niklas Miyakis: Ja, unfassbar. Lieber zehn umbringen als einen nicht umbringen, wenn man das jetzt mal ein bisschen makaber übersetzt. Aber erschreckenderweise war ja der Terror auch das Fundament von Jeschows Macht. Also er konnte überall seine eigenen Leute installieren und wenn du so willst, wurde diese Macht dann aber am Ende auch zu seinem Verhängnis. Dann auch ein Stück weit sein lasterhaftes Leben, er ist ein Säufer gewesen, das kann man so sagen, und wenn er mal wieder zu tief ins Glas geschaut hatte, dann hat er mit seiner Macht auch gern geprahlt. Und das ging dann so weit, dass er auch behauptet hat, er könnte Stalin jederzeit ins Gefängnis stecken. #00:37:12.2#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja. Und das zeigt einfach, dass das Private niemals wirklich privat war von solchen hohen Bolschewisten (unv. #00:37:16.8#)

Niklas Miyakis: Weil da auch wieder Denunzianten dabei waren, … #00:37:18.3#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja, natürlich. #00:37:18.9#

Niklas Miyakis: … die das natürlich weitergeleitet haben. #00:37:20.4#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja, genau. Und dabei spielten im Übrigen auch noch die amourösen Abenteuer seiner Frau eine Rolle, also alles wurde da auf den Tisch gelegt, die anscheinend oder angeblich immer wieder Affären mit bekannten Schriftstellern hatte. Und das wurde alles, habe ich ja gesagt, auf den Tisch gelegt und damit wurde ein Mensch systematisch auch wieder demontiert. #00:37:39.6#

Niklas Miyakis: Er fiel dann in Ungnade, die Schlinge zog sich immer weiter zu. Seine Frau, die dann eben ins Visier geriet, hat dann auch verzweifelte Briefe an ihn selbst geschrieben. Er hat noch versucht, sich insofern zu retten, als dass er dann ihren Exmann hat erschießen lassen. Aber ja, es war eigentlich schon zu spät, ehemalige Liebhaber von ihr wurden verhört. Sie erlitt dann einen Nervenzusammenbruch, wurde in ein Sanatorium geschickt. Und von dort, Hannes, hat sie auch einen Brief an Stalin geschrieben. #00:38:08.5#

Dr. Hannes Liebrandt: Und da schreibt sie: „Ich bitte Sie, Genosse Stalin, diesen Brief persönlich zu lesen. Zwar behandeln mich hier Professoren, aber welchen Sinn soll das haben, wenn mich der Gedanke auszehrt, dass Sie mir misstrauen. Sie sind mein großer und zutiefst verehrter Gebieter.“. Weiter schreibt sie: „Ich würde meine Freiheit, ja sogar mein Leben für das Recht opfern, Sie so zu lieben wie jeder Patriot und jeder Anhänger unserer Partei.“. Von Stalin hat sie keine Antwort auf diesen Brief erhalten. #00:38:34.6#

Niklas Miyakis: Ja, nützte auch alles nichts mehr. Das Politbüro hat dann offiziell einen Beschluss verfasst, dass das NKWD schwere Fehler begangen habe. Stalin und Molotow distanzierten sich öffentlich vom Terror, also haben den dann einfach Jeschow zugeschoben. Seine Frau beging Selbstmord. Die Adoptivtochter wurde in ein Waisenhaus gesteckt, was wohl besonders insofern brutal gewesen ist, als dass man da bewusst Kinder von ehemaligen getöteten Volksfeinden oder in Haft gesteckten Volksfeinden untergebracht hat. Und ein wichtiger Vertrauter Stalins wird jetzt damit beauftragt, gegen Jeschow zu ermitteln. Das ist Lawrenti Beria, der wird dann auch Nachfolger von Jeschow, also Chef des NKWD. Der holt wichtige

Gefolgsleute aus Georgien nach Moskau, war auch eben Georgier. Und einer dieser Gefolgsleute ist ein relativ schwergewichtiger Folterknecht mit Namen Bogdan Kobulow, Hannes. Und dieser Bogdan Kobulow hat Jeschow verhört und davon gibt es ein Protokoll. Da würden wir mal kurz ein kleines Rollenspiel draus machen. Jetzt bin ich einmal der deutlich größere und schwerere Kobulow und du schlüpfst in die Rolle … #00:39:51.3#

Dr. Hannes Liebrandt: … von Jeschow. #00:39:52.0#

Niklas Miyakis: … des kleinwüchsigen Jeschows. Es sind also sozusagen vertauschte Rollen hier. Also ich als Kobulow würde einfach mal anfangen: „Beim letzten Verhör haben Sie gesagt, dass Sie im Verlauf der letzten zehn Jahre eine Spionagetätigkeit im Dienst Polens ausübten. Jedoch haben Sie eine Reihe anderer Spionageverbindungen verheimlicht. Die Untersuchungsbehörde verlangt von Ihnen wahrheitsgetreue und erschöpfende Aussagen in dieser Angelegenheit.“ #00:40:18.2#

Dr. Hannes Liebrandt: „Ich muss gestehen, dass ich, als ich die wahrheitsgetreuen Aussagen über meine Spionagetätigkeit im Dienste Polens machte, tatsächlich meine Spionageverbindung zu den Deutschen vor der Untersuchungsbehörde verheimlichte.“ #00:40:30.7#

Niklas Miyakis: „Welches Ziel versuchten Sie zu verfolgen, als Sie die Untersuchungsbehörde von Ihren Spionageverbindungen mit den Deutschen ablenkten?“ #00:40:37.7#

Dr. Hannes Liebrandt: „Ich wollte meine direkte Spionageverbindung mit den Deutschen während der Untersuchung nicht offenlegen, zumal meine Zusammenarbeit mit der deutschen Spionageabwehr nicht nur auf die Spionage im Auftrag der deutschen Spionageabwehr beschränkt war, ich organisierte eine

antisowjetische Verschwörung und bereitete einen Staatsumsturz vor, der durch terroristische Anschläge auf die Führer der Partei und der Regierung realisiert werden sollte.“ #00:41:02.4#

Niklas Miyakis: Ja, Hannes, mit diesem kurzen Rollenspiel haben wir eigentlich unsere Hörerinnen und Hörer ein bisschen in die Irre geführt, weil ich glaube, dieses Verhör hat so nie stattgefunden. #00:41:11.3#

Dr. Hannes Liebrandt: Nein. #00:41:11.5#

Niklas Miyakis: Jeschow hat wie viele andere vor ihm, wie er das selber bei vielen anderen erzwungen hat, durch eigene Folter, die er angewendet hat, ist er mutmaßlich jetzt auch gefoltert worden, hat wahrscheinlich auch irgendwelche Versprechen bekommen, hat wahrscheinlich auch versucht, seine Sippe zu retten, indem er einfach alles gesteht, was man ihm da vorlegt. Es ist ja ein relativ absurder Vorschlag, nicht Vorschlag, sondern Vorwurf, dass der Chef des NKWD irgendwie zu polnischen, muss man ja auch immer in der Zeit dann noch sehen, zu polnischen und deutschen Geheimdiensten Kontakt gehabt haben soll. Die letzten zehn Monate allerdings von seinem Leben verbringt er dann in Haft. Stalin soll sich noch relativ regelmäßig Bericht über seinen Gesundheitszustand hat schicken lassen. #00:42:00.6#

Dr. Hannes Liebrandt: Beria liefert ihm eigentlich permanent Berichte über dessen Gesundheitszustand und lässt gleichzeitig aber eben auch Berichte veröffentlichen, nachdem der NKWD unter Jeschow Unschuldige in ganz großem Stil verhaften ließ. Er ließ Freunde und Mitarbeiter Jeschows verhaften, informierte Stalin auch über diese privaten Verfehlungen, die du vorhin angesprochen hast, also über den Alkoholkonsum im Dienst, über angebliche Sexorgien und so weiter. Alles wurde eigentlich auf den Tisch gelegt. #00:42:28.4#

Niklas Miyakis: Ja, nützte alles nichts, im Februar 1940 ist Jeschow zum Tode verurteilt worden und mit ihm dann auch tatsächlich recht weitreichend Menschen in seinem Umfeld, fast 350 insgesamt. Auch bezeichnend, vor Gericht hat er dann alles widerrufen, soweit ging es dann eben wohl doch nicht, hat den Staatsanwalt als Hure bezeichnet. Also da zeigte sich auch noch mal so sein Naturell, wie ich finde. Und ganz wichtig, das zeigte sich vor allen Dingen, weil er gesagt hat: „Ich habe es bereut, dass ich nicht noch mehr Menschen gesäubert oder nicht noch mehr Menschen ausgesäubert habe.“. Also er widerruft ein Stück weit auch sein Geständnis und sagt gleichzeitig, hätte noch mehr umbringen müssen. Was er aber dann sehr wohl auch tut, ist, dass er darum bittet, dass man ihn nicht foltert, sondern ihn einfach direkt erschießt. #00:43:14.7#

Dr. Hannes Liebrandt: Und wird der Wunsch erhört? #00:43:15.7#

Niklas Miyakis: Das weiß ich nicht genau. Was aber wohl überliefert ist, dass er relativ hysterisch geschrien haben soll, als man ihn dann da im wahrsten Sinne des Wortes zur Schlachtbank bringt, also zur Hinrichtungsstätte. #00:43:31.1#

Dr. Hannes Liebrandt: Übrigens, ein ganz kurzer Side Fact. Also das Amt des NKWD-Chefs war in der Zeit, in der wir jetzt gerade uns über unterhalten, eigentlich gleichbedeutend mit einem unnatürlichen Tod. Nämlich nicht nur Jagoda wurde hingerichtet, nicht nur Jeschow wurde hingerichtet, sondern Beria danach eben auch. Zwar erst 1953, nach dem Tod Stalins, aber auch Beria wird getötet von dem Regime, ebenfalls als Spion dann entlarvt beziehungsweise angeblich entlarvt. #00:44:04.8#

Niklas Miyakis: Da muss ich an Georg Büchner denken, Dantons Tod, die Revolution frisst ihre eigenen Kinder. #00:44:12.0#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja, ich habe auch an die Französische Revolution irgendwie, Robespierre und die dann irgendwie diese Jakobinerherrschaft gemacht haben und dann am Ende selbst getötet werden. #00:44:22.1#

Niklas Miyakis: Okay, Hannes, lass uns zum Ende kommen dieser heutigen Episode. Wir versuchen das Ganze aber auch noch historisch einzuordnen. #00:44:29.4#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja, Niklas, im Mittelpunkt unserer heutigen Folge stand nun ein Teil von dem Terrorregime Josef Stalins, insbesondere in den Jahren 1934 bis 1938. Die Sowjetunion unter Stalin gehört oder zählt nun auch deshalb zu einem totalitären Staat, weil sie das Element des Terrors wirklich als zentralen Bestandteil der eigenen Staats- und Regierungsauffassung durchgesetzt haben. Und diesen Terror insbesondere nach innen haben wir heute besprochen, der vor allen Dingen mit diesem Attentat auf Kirow im Jahr 1934 eingeläutet wird und dann unter Jeschow zu dieser großen Terrorwelle führt. #00:45:08.6#

Niklas Miyakis: Jeschowina quasi. #00:45:09.9#

Dr. Hannes Liebrandt: Jeschowina, richtig, genau. Und damit schließt sich auch die Klammer, die wir mit den beiden Personen und Stalin immer so im Hintergrund besprechen wollten. Wir können aber diese Podcast-Folge natürlich nicht enden lassen, ohne wieder einen Gegenwartsbezug herzustellen. Und wir möchten jetzt das folgendermaßen machen, dass wir eben nicht im Vorfeld uns einen Gegenwartsbezug überlegen, sondern aus der Erzählung heraus soll dieser Gegenwartsbezug hergestellt werden. Und Niklas, dir fällt nun jetzt immer diese Rolle zu, diesen Gegenwartsbezug herzustellen, und deswegen frage ich dich jetzt einfach mal ganz direkt: Welche Erkenntnisse siehst du jetzt spontan, die man aus der heutigen Folge ziehen könnte? #00:45:46.1#

Niklas Miyakis: Erst mal habe ich gelernt, dass du bei fortgeschrittener Zeit immer springst zwischen Stalin und (unv. #00:45:51.5# Stali?), das ist aber natürlich jetzt noch kein wesentlicher Lerneffekt, den ich rausziehen würde. Tatsächlich habe ich mich an mein Studium zurückerinnert, in deinen letzten Worten jetzt gerade, also in den letzten … #00:46:03.0#

Dr. Hannes Liebrandt: Hoffentlich nicht meinen letzten Worten. #00:46:04.5#

Niklas Miyakis: Naja, zumindest für heute letzten Worten, inhaltlicher Natur. Ich habe an mein Studium zurückgedacht, aber gar nicht, wie du jetzt wahrscheinlich denkst, ans Geschichtsstudium, sondern an das literaturwissenschaftliche Studium. Da hatte ich nämlich in meiner Abschlussprüfung den DDR-Dramaturgen Heiner Müller. Der hat ein Stück über den bolschewistischen Terror geschrieben, in der Revolutionszeit. Und da gibt’s eine ganz einprägende Metapher. Also ich muss ganz kurz übrigens noch Harald Neumeyer grüßen, der mich damals geprüft hat, Professor mittlerweile, glaube ich, in Erlangen. Hallo Harald! Aber zurück zu dem Drama. Da gibt’s eine Metapher, in der heißt es: Das Gras noch müssen wir ausreißen, damit es grün bleibt. Und ich glaube, heute zum ersten Mal verstanden zu haben, was damit gemeint ist, nämlich dass das permanente Töten sozusagen die Existenzgrundlage des bolschewistischen Systems gewesen ist. Man braucht das permanente Töten, man braucht permanente Feindbilder, um sich selbst zu legitimieren. Und das haben wir, finde ich, in der heutigen Folge relativ gut gesehen. #00:47:05.2#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja, würde ich auch sagen. Auf jeden Fall #00:47:06.2#

Niklas Miyakis: Stalins Macht fußt auf diesem Denunziantentum, fußt darauf, permanente Feindbilder zu konstruieren, nämlich dann, wenn man eigentlich gar keine mehr hat. Dann wird man damit beauftragt als Jeschow, präsentiere mir bitte neue Feindbilder, und das funktioniert durch dieses Denunziantentum. Das würde ich

sagen, habe ich für heute mitgenommen. Und das ist wahrscheinlich auch sehr exemplarisch für totalitäre Staaten. #00:47:28.6#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja, auf jeden Fall. #00:47:29.5#

Niklas Miyakis: Okay, dann würde ich sagen, Hannes, belassen wir es dabei. #00:47:32.4#

Dr. Hannes Liebrandt: Belassen wir es dabei. #00:47:32.8#

Niklas Miyakis: Hört gern auch in alte und neue Folgen, in 14 Tagen kommt die nächste. Wir haben noch ein paar Episoden in dieser Staffel, Gesichter des Terrors. Es wird sicherlich auch eine zweite Staffel geben. Wir hoffen, es hat euch heute Spaß gemacht. Wir versuchen immer, kürzer zu werden, Historiker labern ja unglaublich viel, wie man jetzt gerade auch noch mal wunderbar sieht. Aber ich denke, wir werden von Folge zu Folge da auch ein Stück weit komprimierter, pointierter. Danke fürs Zuhören! #00:47:57.3#

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