Staffel 1, Folge 5

Der Mörder
im weißen Kittel

Die heutige Zeitreise führt uns in die unmittelbare Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Es ist die Geschichte eines zunächst unbekannten Arztes, der maßgeblich für den Massenmord an unzähligen Menschen im Rahmen des Euthanasie-Programms verantwortlich sein soll …

© Bundesarchiv, Bild 162 Bild-01818 / Fotograf(in): o. Ang.

Mord im weißen Kittel

Irmfried Eberl

© Bundesarchiv, B 162 Bild-00633 / Fotograf(in): o. Ang.

Dr. med. Irmfried Eberl trat 1940 seinen Dienst als Leiter der NS-Tötungsanstalt Brandenburg an und wechselte nach dessen Auflösung samt Personal in die neu errichtete NS-Tötungsanstalt Bernburg. 1942 wurde Eberl an die Ostfront kommandiert und war am Aufbau des Vernichtungslagers Treblinka beteiligt. Nach Ende des Nationalsozialismus praktizierte Eberl noch lange Zeit ungestört als niedergelassener Arzt in Baden-Württemberg.
Euthanasie im Sinne der nationalsozialistischen Rassenhygiene bezeichnet einen Euphemismus für die geplante und systematische Tötung vermeintlich genetisch kranker Menschen. Die Nationalsozialisten begannen mit der sog. Kinder-Euthanasie bereits 1939 aufgrund eines geheimen Führererlasses. Bald darauf entstehen Tarnorganisationen, die die Tötung von Kindern und Erwachsenen in Vernichtungslagern plant.

©  J. Gumkowski, A. Rutkowski, 1943 / CC

treblinka

alle Folgen, Staffel 3

Die 3. Staffel führt von Oberbayern über Sizilien nach Mississippi. Es werden wieder einige der spannendsten, aber auch grausamstem Morde des 20. Jahrhunderts besprochen. Steigen Sie ein in die Welt des History Crime!

Kurz & Knackig

Folge 5: Der Mörder im weißen Kittel

Niklas Miyakis: Liebe Hörerinnen und Hörer, ein herzliches Willkommen zu unserer heutigen Episode. Ein herzliches Willkommen auch dir, Hannes. #00:00:52.4#

Dr. Hannes Liebrandt: Hallo Niklas! #00:00:53.0#

Niklas Miyakis: Hannes, unsere heutige Zeitreise führt uns in die unmittelbaren Nachkriegsjahre. Die BRD ist noch nicht gegründet. Wir werden darüber sprechen, warum sich ein Mann als Folge eines Schachspiels umbringt. Wir werden darüber reden, was das mit der massenhaften Tötung von Menschen mit Behinderung in der Zeit des Nationalsozialismus zu tun hat, auch bekannt als Euthanasie. Wir werden versuchen zu klären, wie man Nazi-Verbrechern auf die Spur kam und wieso man manche überhaupt nicht gejagt hat und die sich eigentlich ein relativ schönes Leben in der Bundesrepublik machen konnten. Über all das sprechen wir in unserem heutigen Fall. Hannes, wir tauchen ein in das Jahr 1948, es ist der 15. Februar und unsere heutige Geschichte spielt zunächst in Ulm. Genau genommen in der dortigen Untersuchungshaftanstalt. Um 18 Uhr werden die Insassen dort eingeschlossen und unter anderem wird ein sichtlich abgemagerter Häftling in seine Zelle gebracht. Dieser Häftling hustet stark, leidet unter Schweißattacken, ist vermutlich tuberkulosekrank. Was relativ ungewöhnlich gewesen sein muss, er verabschiedet

sich von seinen Mithäftlingen per Handschlag, geht dann in seine Zelle, schreibt einen Brief. Um 20 Uhr werden dann in allen Zellen die Lichter ausgeschaltet und um 20:30 Uhr wird noch mal überprüft, ob auch wirklich alle Häftlinge in ihren Zellen sitzen. Das wird per Klopfzeichen gemacht, da wird nichts Ungewöhnliches festgestellt. Dann vergeht die Nacht und am nächsten Tag gibt es Frühstück, und auch da wieder die gerade beschriebene Routine, Klopfzeichen. Und nun hört man aus der entsprechenden Zelle eben keine Reaktion. Und das führt dazu, dass dann die Wärter die Zelle aufschließen und das, was sie dort sehen, Hannes, das sehe ich vor mir auf einem Bild. Und ich sehe dort einen Menschen, der sich mutmaßlich an so etwas wie einem Heizungsrohr erhängt hat. Er trägt weiße Häftlingskleidung und er ist offensichtlich tot. Hannes, um wen geht es hier? Wer hat sich da mutmaßlich selbst umgebracht? #00:03:00.3#

Dr. Hannes Liebrandt: Wir können zum jetzigen Zeitpunkt noch gar nicht wissen, wer dieser Tote war. Und das Entscheidende ist, die Ermittlungsbehörden und auch die Gefängnisleitung wussten es zu dem Zeitpunkt auch noch nicht. Und wir bleiben jetzt mal ein bisschen in dieser Unkenntnis und versuchen, uns in diese Zeit hinein zu versetzen. Das Einzige, was man neben der Leiche natürlich vorfindet, ist ein Brief, den dieser Häftling wohl kurz vorher geschrieben hat. Den lese ich jetzt mal kurz vor: „Liebste, du kannst gar nicht ermessen, was es für mich bedeutete, dass ich dich gestern sehen und sprechen durfte. Ich bin dadurch so ruhig geworden, denn ich weiß, du bist stark und wirst alles tragen. Habe Dank für deine Liebe, die die letzten Jahre überstrahlt und diese nur so schön gemacht hat. Meine Gedanken sind stets bei dir und um dich. Ich grüße alle, Mutti, Ruth und Hans, alle übrigen Verwandten und Bekannten. Auch sage allen Dank, durch deren Liebe und Entgegenkommen meine Haft erleichtert wird.“. Niklas, jetzt haben wir diesen Brief gelesen, aber wissen eigentlich auch noch nicht mehr. #00:03:59.9#

Niklas Miyakis: Nein. Und was mir direkt auffällt, es ist das Jahr 1948. Es war ja vorher eine relativ prägende Zeit, Weltkrieg, Nationalsozialismus, darauf wird überhaupt nicht Bezug genommen. Es gibt auch kein richtiges Motiv, warum er sich umgebracht hat. Das Einzige, was ich jetzt erst mal daraus schließen kann, er hat

wahrscheinlich einen Abschiedsbrief an seine Frau, nehme ich mal an, geschrieben. #00:04:20.1#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja. Es ging an die Frau und es war auch ein Abschiedsbrief. Also der Selbstmord, den wir jetzt gerade hier schon einfach mal so in den Raum geworfen haben, der wurde dann auch durch den Autopsie-Bericht zweifelsfrei bestätigt. #00:04:31.1#

Niklas Miyakis: Lass uns mal kurz über die Identität dieser Person sprechen. Wir wissen das jetzt noch nicht, aber die Menschen damals haben es ja mutmaßlich irgendwie gewusst, weil er steckte ja im Gefängnis, er muss ja irgendwas verbrochen haben. #00:04:44.8#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja, aber er war ja in einer Untersuchungshaftanstalt. Das heißt, es gab noch keine rechtskonforme Verurteilung, denn dazu hätte man auf jeden Fall die Person zweifelsfrei identifizieren müssen. Was man wusste, war, man hatte eine Vermutung und eigentlich zwei Indizien, die diese Vermutung begründeten. Indiz Nummer eins: Die amerikanischen Militärbehörden haben die Generalstaatsanwaltschaft in Stuttgart kontaktiert und haben gesagt „Passt auf! In Blaubeuren“, das ist eine kleine Stadt in Baden-Württemberg, „dort praktiziert ein Arzt, der heißt genauso wie der Leiter der damaligen Tötungsanstalt in Bernburg“. Indiz Nummer zwei: Es gab ein Buch, wurde veröffentlicht, eines ehemaligen KZ-Häftlings in Buchenwald, Eugen Kogon, das hieß „Der SS-Staat“. Und auch der spricht von einem Leiter der Tötungsanstalt in Bernburg und nennt auch einen Namen, nämlich den Namen Irmfried Eberl. Und die Ermittlungsbehörden jetzt kommen allmählich diesem Namen so ein bisschen auf die Spur, und sie gehen zu Eugen Kogon, also zu dem Autor. Der kann natürlich keine weiteren Informationen geben, sondern schickt sie weiter zu Waldemar Hoven. Waldemar Hoven war jetzt der Lagerarzt im Konzentrationslager Buchenwald. Der befand sich bereits im Todestrakt, der wurde zum Tode verurteilt in Nürnberg. Und Waldemar Hoven sagt

aus, ja, er hatte wohl ein Gespräch gehabt mit einem Arzt, der eben so hieß, aber er kann sich nicht genauer daran erinnern. #00:06:14.0#

Niklas Miyakis: Ja. Und er hat, glaube ich, gesagt, er erinnert sich nicht mehr an den Vornamen, oder? #00:06:16.9#

Dr. Hannes Liebrandt: Richtig. Ja. #00:06:17.8#

Niklas Miyakis: Wenn ich das noch mal kurz zusammenfasse, das klingt für mich megaunglaubwürdig. Also es handelt sich irgendwie mutmaßlich um ein relativ hohes Tier, ein hohes Tier insofern, NS, großer Kriegsverbrecher, großer Fisch. Und man fragt jetzt einen anderen großen Fisch, nämlich den Lagerarzt von Buchenwald, und der kann sich, weil das ja auch alles nicht so wichtig ist, nicht mehr an den Vornamen erinnern. Also das finde ich relativ wenig überzeugend. #00:06:43.2#

Dr. Hannes Liebrandt: Und man wusste natürlich auch nicht, also die Ermittlungsbehörden konnten ja nicht davon ausgehen, dass dieser Waldemar Hoven zweifelsfrei für oder gegen diesen Irmfried Eberl aussagen würde, also wie verlässlich diese Quelle überhaupt ist. Man muss dazu sagen, die hatten auch echt einen schweren Stand damals. Also es war ja nicht so, dass die einfach so eine Tötungsanstalt befreit hätten und dann im Büro hätten die Akten gefunden, wo genau aufgelistet wurde, wer diese Tötungsanstalt geleitet hat, am besten noch mit Foto und Biographie. Und die Nationalsozialisten haben das geschreddert, die haben Zeugen auch getötet. Sie haben eben alles, alle Indizien versucht eben in den letzten Kriegsmonaten noch zu vernichten. Und das hat zum schweren Stand für die Ermittlungsbehörden geführt. #00:07:26.5#

Niklas Miyakis: Und deswegen greift man dann ja auch, glaube ich, zu relativ kreativen Methoden, um die Identität von diesem Menschen festzustellen, Hannes. Also wie geht’s weiter? #00:07:34.5#

Dr. Hannes Liebrandt: Also das entscheidende Puzzlestück fehlt. Wir haben jetzt die Vermutung, wir haben zwei Indizien, aber wir haben jetzt logischerweise kein Geständnis oder dergleichen. Am 8. Dezember 1947, also gut zwei Monate vor dem Selbstmord, wird eben im Rathaus von Blaubeuren der Arzt erneut vernommen. Er hat ja bislang immer alles abgestritten. Er wird in dieser Vernehmung nach seinen Verbindungen, die NSDAP, in die SA, in die SS, gefragt. Typische Entnazifizierung, könnte man sagen. Jetzt kommen aber zwei Aspekte hinzu, die so die Relevanz noch ein bisschen verdeutlichen. Erstens, dieser Arzt war Österreicher. Also nicht, dass das ein besonderes Merkmal gewesen wäre für Kriegsverbrechen. Es gab zwar einige bekannte, aber das kann man natürlich nicht generalisieren. Aber man musste als Österreicher noch mal deutlicher machen, warum er damals ins nationalsozialistische Deutschland ausgewandert ist. #00:08:26.6#

Niklas Miyakis: Das zeigt ja im Grunde auch noch mal die besondere Radikalität, dass man extra sozusagen, … #00:08:31.6#

Dr. Hannes Liebrandt: Richtig. #00:08:31.9#

Niklas Miyakis: … dann aus Überzeugung zu Deutschland geht. #00:08:36.5#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja. Und zweitens, dieser Arzt musste auch seine Approbation neu beantragen. Also er wollte wieder als Arzt tätig werden und da hat man auch noch mal genau hingeschaut, war der irgendwie in Verstrickungen mit den NS-Ärzteverbrechen verwickelt, oder nicht? #00:08:50.1#

Niklas Miyakis: Und ich nehme an, er bestreitet dann bei dieser Befragung alles. #00:08:52.6#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja, natürlich. Also er sagt, zwischen 1937 bis 1944 war er nur im Hauptgesundheitsamt in Berlin tätig. Und dann ab 44 wurde in die Wehrmacht eingezogen. Trotz dieser massiven Leugnung, seiner Verstrickungen, wird er dann eben verhaftet, und zwar genau am 8. Januar 1948, also ungefähr einen Monat vor seinem Selbstmord. #00:09:13.9#

Niklas Miyakis: Okay. Und damit sind wir wieder in unserem Ursprungsort, zurück in der Untersuchungshaftanstalt in Ulm. Es sind jetzt noch fünf Wochen bis zum Selbstmord. Wie geht’s jetzt weiter, Hannes? #00:09:23.6#

Dr. Hannes Liebrandt: Kurze Zeit nach der Inhaftierung gibt es eigentlich den bahnbrechenden Erfolg, könnte man sagen. Eine Krankenschwester, die damals auch dort tätig gewesen ist, kann eben Irmfried Eberl zweifelsfrei identifizieren anhand eines Fotos. #00:09:40.7#

Niklas Miyakis: Also musst du vielleicht kurz ein bisschen präzisieren, wo tätig gewesen ist? #00:09:44.4#

Dr. Hannes Liebrandt: Genau. Also in einer dieser Tötungsanstalten. Kommen wir auch noch mal dazu. Aber wie wir alle wissen, Zeugenaussagen reichen ja für eine endgültige Verurteilung manchmal nicht aus. Was wollte man? Man wollte eben ein Geständnis. Und jetzt kommen wir zu dem Schachspiel, das du am Anfang so mysteriös eingeleitet hast. Man setzt nämlich einen Mithäftling an und der soll eigentlich in diesen privaten Gesprächen im Rahmen eines Schachspiels eruieren, was der überhaupt gemacht hat, dieser Arzt, und dann möglicherweise auch seine Identität preisgeben. #00:10:16.9#

Niklas Miyakis: Und das ist jetzt genau der Tag, an dem er sich umbringt, oder? #00:10:21.2#

Dr. Hannes Liebrandt: Einen Tag später. Also das ist der Vortag, richtig. In dieser Schachpartie versucht eben der Mithäftling ein bisschen auszufragen. Er lenkt auch dann das Gespräch auf das Buch „Der SS-Staat“ von Eugen Kogon. Aber der war Profi genug, er musste lange genug seine Identität verheimlichen. Also erst sagt’s nicht. #00:10:41.0#

Niklas Miyakis: Aber es war so ein bisschen die Idee, der gewinnt das Vertrauen und dann spielt man Schach zusammen und dann sagt der irgendwie, es klingt auch ein bisschen, sorry, auch ein Stück weit naiv, dass man dann glaubt, okay, der verrät dann sofort alles. #00:10:53.7#

Dr. Hannes Liebrandt: Aber passiert auch heute noch oft, dass man irgendwie mit Mithäftlingen versucht irgendwie Geständnisse abzuringen. Man versucht, so einen privaten Raum zu schaffen und dann in diesem privaten Raum, dass er sich verplappert. #00:11:04.7#

Niklas Miyakis: Okay, vielleicht klingt’s für mich auch nur naiv. Weil ich stelle mir jetzt so vor, die spielen halt irgendwie da zusammen Schach und dann so, lässt man halt mal fallen, ach übrigens. #00:11:11.5#

Dr. Hannes Liebrandt: Er verrät sich zwar nicht, aber er weiß, man ist ihm auf den Fersen. Also man erkennt natürlich auch die Nachfragen, also er war ja auch nicht dumm und hat dann sicherlich auch Angst gehabt, dass man ihn in der Folge dann wirklich identifizieren könnte. #00:11:24.7#

Niklas Miyakis: Also kann man durchaus, wenn wir da jetzt ein bisschen ins Spekulieren gehen, Hannes, kann man durchaus sagen, dass dieses Gespräch, dieses Schachspiel, wahrscheinlich dann auch der Auslöser ist für den Selbstmord,

weil er einfach spürt, okay, die Schlinge wird sich um meinen Hals zuziehen. Also ich sag‘s jetzt sehr salopp, mache ich es selbst. #00:11:42.8#

Dr. Hannes Liebrandt: Der zeitliche Abstand spricht dafür. Also dieses Schachspiel war eben genau am Abend, am frühen Abend vor dem Erhängen dann letztendlich in der Zelle und vor dem Schreiben des Abschiedsbriefes. Und die Obduktion und dann weitere Befragungen nach diesem Selbstmord haben dann auch zweifelsfrei ergeben, ja, es war Irmfried Eberl. #00:12:05.4#

Niklas Miyakis: Gut, Hannes, bring wir ein bisschen Licht ins Dunkel. Wir haben jetzt den Namen Irmfried Eberl gehört, lass uns ein bisschen dahin gehen, wer das überhaupt ist. Klär uns bitte ein Stück weit auf. #00:12:14.5#

Dr. Hannes Liebrandt: Es gibt ja wirklich viele NS-Kriegsverbrecher. Viele kennt man, die sind auch irgendwie in Dokumentationen oder in Filmen präsent. Und wiederum andere kennt man überhaupt nicht. Und ich würde jetzt einfach mal sagen, Irmfried Eberl gehört zur zweiten Kategorie. Also ich kannte ihn zum Beispiel nicht, bevor ich mich mal damit auseinandergesetzt habe. #00:12:34.5#

Niklas Miyakis: Ich sage dir ganz ehrlich, bevor du den Vorschlag gemacht hast, dass wir diese Episode aufnehmen, kannte ich ihn auch nicht. #00:12:39.7#

Dr. Hannes Liebrandt: Aber das ist ja vielleicht auch mal ganz gut, dass man wirklich unbekannte Personen mal anspricht. Dieser Irmfried Eberl wandert mit 26 Jahren in das nationalsozialistische Deutschland aus und legt dann wirklich eine erstaunliche Karriere im Dritten Reich hin. Mit gerade einmal 30 Jahren war er bereits Leiter der Tötungsanstalten Brandenburg und später Bernburg. Und er war somit auch maßgeblich im Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten verstrickt und hat sich dadurch auch eine bedeutende Schuld aufgeladen. #00:13:09.8#

Niklas Miyakis: Lass uns über dieses Euthanasieprogramm vielleicht mal sprechen, lass uns über die Verfolgung von Menschen mit Behinderung in der Zeit des Nationalsozialismus reden. Wann geht das los? Die juristischen Grundlagen werden, glaube ich, relativ schnell nach der Machtübernahme Hitlers geschaffen. #00:13:25.1#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja, bereits 1933 wird dieser Weg eigentlich eingeleitet, juristisch betrachtet. Wir können das jetzt nicht im Detail besprechen, aber ein paar Gesetze sind doch auch wirklich wichtig. Bereits am 14. Juli 1933, also gerade mal sechs Monate ist Hitler als Reichskanzler an der Macht, noch nicht mal als Staatsoberhaupt, wird das sogenannte Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses erlassen. Und auf Basis dieses Gesetzes wurden dann erzwungene Sterilisationen von Menschen durchgeführt, von angeblich erbkranken Menschen. Also erbkranke Menschen, was das mit Euthanasie zu tun hat, das sage ich gleich. Ich will nur mal die Dimension verdeutlichen. Bis zu 400.000 Männer und Frauen wurden auf Basis auch dieses Gesetzes dann eben zwangssterilisiert und viele sind davon, tausende davon auch gestorben. Und der nächste Schritt, Nürnberger Gesetze, kennt man dann, glaube ich, auch, und auf Basis eben dieser Nürnberger Gesetze wurde dann auch das sogenannte Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes erlassen, am 18. Oktober 1935. #00:14:27.4#

Niklas Miyakis: Das sogenannte Ehegesundheitsgesetz, hieß das glaube ich. #00:14:30.0#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja, richtig. Und was besagte dieses Gesetz? Es war verboten, also es waren Eheschließungen verboten von Menschen, von „Volksgenossen“, in Anführungszeichen, mit Menschen mit Erbkrankheiten oder mit geistigen Behinderungen. #00:14:43.0#

Niklas Miyakis: Also nach der Kategorisierung der Nationalsozialisten muss man immer dazusagen. Dann kommt es offiziell zum Euthanasieprogramm. Wann geht das los? #00:14:54.5#

Dr. Hannes Liebrandt: Dieses Euthanasieprogramm, ich glaube, das kennt man noch am stärksten, also nicht diese einzelnen Gesetze, es beginnt im Grunde mit der Kindereuthanasie, nachdem eben Babys, noch Kleinkinder mit geistigen oder körperlichen Behinderungen, wenn die von den nationalsozialistischen Ärzten attestiert wurden, getötet wurden. Und wird dann später ausgeweitet auf die Erwachseneneuthanasie. Bei dieser Kindereuthanasie, lassen wir uns da noch mal kurz bleiben, wichtig ist, Hebammen und Ärzte waren meldepflichtig. Also sie mussten dann dem Reichsausschuss des Inneren melden, ob diese Geburten irgendwie was Auffälliges gezeigt hätten. Und zwar wurden drei Kategorien eingeführt. Die erste Kategorie: Keine weiteren Maßnahmen. Also dann bleibt man weitgehend verschont. #00:15:41.4#

Niklas Miyakis: Also auf Basis dieser Gutachten, die die Ärzte und die Hebammen erstellt haben, hat dann dieser Reichsausschuss des Inneren diese Kategorisierung vorgenommen. #00:15:51.0#

Dr. Hannes Liebrandt: Richtig. Genau. Also erste Kategorie: Keine weiteren Maßnahmen. Man blieb meistens verschont. Kategorie zwei, schon schwieriger: Beobachtung. Man wurde oftmals eingewiesen in psychiatrische Heil- und Pflegeanstalten, diese Kinder und Babys. Und unter drei war dann: Behandlung. Und Behandlung bedeutete nichts anderes als direkte Tötung dieser Kinder. #00:16:11.5#

Niklas Miyakis: Ich finde besonders perfide, dass man das dann auch irgendwie noch mit Behandlung labelt so. #00:16:17.4#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja, unbedingt. #00:16:18.0#

Niklas Miyakis: Das Ganze gipfelt dann auch in der Aktion T4, die sich dezidiert auch gegen Erwachsene gerichtet hat. #00:16:24.4#

Dr. Hannes Liebrandt: Genau. Das ist dann vor allem die Erwachseneneuthanasie, die ich auch schon gesagt hatte. Diese T4 Aktion erst mal vom Namen, Tiergartenstraße 4 in Berlin abgeleitet. Es wurden dann Gutachter bestellt, die attestieren mussten, handelt es sich um lebenswertes Leben oder um lebensunwertes Leben. Und wenn man lebensunwertes Leben hier attestiert hat, dann wurden die Menschen gezielt in entsprechenden Einrichtungen dann auch ermordet. #00:16:49.9#

Niklas Miyakis: In diesen Begrifflichkeiten steckt ja im Grunde auch schon ein Stück weit das Motiv für das Euthanasieprogramm. Aber vielleicht sprechen wir da auch noch mal kurz drüber. #00:16:57.1#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja. Ich habe jetzt einfach mal eine Quelle noch mal mitgebracht von Martin Bormann. Kennt man, glaube ich, war auch einer der maßgeblichen Initiatoren des Euthanasieprogramms, einer der führenden Köpfe des Dritten Reichs. Der antwortet einem Arzt, der bei Bormann gegen das Euthanasieprogramm intervenierte. Und Bormann versucht jetzt in seiner Sichtweise das Euthanasieprogramm zu rechtfertigen. #00:17:20.7#

Niklas Miyakis: Also da beschwert sich jetzt jemand im Grunde darüber, dass das Euthanasieprogramm durchgeführt wird. #00:17:25.7#

Dr. Hannes Liebrandt: Genau. Richtig. Und er schreibt: „Dass die christlichen Konfessionen, selbst die lebensunwertesten Geschöpfe, die völlig und unheilbar Geisteskranken am Leben zu erhalten bestrebt sind, ist klar. Ebenso klar ist aber

auch, dass wir Nationalsozialisten diese Dinge von einer anderen Seite betrachten müssen. Wir vertreten also zum Beispiel den Standpunkt, dass es völlig falsch ist, Kinder, die völlig verkrüppelt werden, am Leben zu erhalten. Nach unserer Auffassung ist es richtig, wenn solche Krüppel nicht erst künstlich hochgepäppelt und ihr Leben lang zu Lasten der Eltern und der Volksgemeinschaft unterhalten werden, sondern wenn sie schon im frühesten Stadium nach eingehender Beurteilung durch die dazu berufenen Ärzte möglichst rasch wieder für immer eingeschläfert werden.“. #00:18:18.2#

Niklas Miyakis: Ja. Das ist das Gegenteil von Inklusion im Grunde, Hannes. Jeder, der nicht in das Bild der Herrenrasse passt, der kann nie dazugehören, der wird auch nie dazugehören. Und das Ganze nennt man dann auch, so haben die Nationalsozialisten das damals, glaube ich, genannt: Aktion Gnadentod. Wie Tiere, also die werden richtig entmenschlicht. Ich meine, Gnadenhöfe gibt’s heute für alte Tiere, irgendwie für Pferde, die nicht mehr gebraucht werden. Und es geht nur um diesen Gebrauchszweck von Menschen im Grunde. Und weil man die eben nicht gebrauchen kann, er spricht ja auch davon, weil die eine Last sind, diese Krüppel, deshalb sind sie im Grunde, man muss es so sagen, zu entsorgen im Grunde. Warum wird dann trotzdem das Morden offiziell beendet? #00:19:06.5#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja, das Wort offiziell passt eigentlich gar nicht so sehr in diesen Kontext, weil diese Morde nie wirklich offiziell waren. Man hat eben genau in diesem Euthanasieprogramm auch versucht, eine Irreführung der Patienten und der Angehörigen durchzuführen. Also man hat die Taten und Morde verheimlicht. Man hat den Angehörigen gesagt, es gibt neuartige Therapiemethoden, wir kümmern uns um diese Leute. Und dann hat man sie aber gezielt durch Injektionen oder teilweise auch durch Gaskammern ermordet. Und genau diese Morde mitten in Deutschland führten eben dazu, dass es massive Proteste gab, nicht zuletzt auch von kirchlicher Seite, an diesem T4 Programm, sodass man dann, wie gesagt, dieses Programm eingestellt hat. Aber damit hört das Grauen letztendlich nicht auf, sondern im Verborgenen unter Nachfolgeorganisationen und Tarnnamen hat man diese Morde

fast bis Kriegsende dann noch weitergeführt. Nicht mehr in diesem Ausmaß wie zwischen 1940 und 1942, aber doch sehr, sehr häufig noch. #00:20:10.7#

Niklas Miyakis: Und wir hatten den Begriff hier auch schon häufiger, dieses Morden findet dann statt in den sogenannten Tötungsanstalten. #00:20:16.1#

Dr. Hannes Liebrandt: Genau. Und das meinte ich gerade, mitten in Deutschland. Nämlich diese Tötungsanstalten, die standen am Ende letztendlich dieser Tötungspyramide, Spirale, wie man es auch sagen würde. Es gab verschiedenste Tötungsanstalten, Brandenburg, Bernburg, Hadamar, Hartheim, Grafeneck und Pirna-Sonnenstein. Dazu gab es aber noch ein perfides Netz an Heil- und Pflegeanstalten, die natürlich nur so getarnt wurden. Aber in diesen Tötungsanstalten wurden eben massenhaft Menschen umgebracht. Nicht nur durch Injektionen, also nicht nur Einzelmorde, sondern tatsächlich auch in Gaskammern. #00:20:50.5#

Niklas Miyakis: Und eine dieser Tötungsanstalten, auch das haben wir schon gehört, hat Irmfried Eberl geleitet. #00:20:56.2#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja genau. Und das ist das Entscheidende, um jetzt auch die Bedeutung von Irmfried Eberl zu erkennen im Nationalsozialismus. Er leitete ja nicht nur eine Tötungsanstalt, sondern sogar zwei Tötungsanstalten. Nämlich nachdem Brandenburg offiziell aufgelöst wurde, wechselte er dann nach Bernburg, und er nahm dort die Hinrichtung laut Augenzeugenberichten stets eigenhändig vor. Und jetzt kommt aber auch der entscheidende Punkt. Aufgrund seiner „Verdienste“, man sieht jetzt nicht meine Anführungszeichen. #00:21:24.7#

Niklas Miyakis: Hieß dann auch wirklich offiziell Verdienste, oder? #00:21:26.4#

Dr. Hannes Liebrandt: Richtig, aber ich mach‘s trotzdem in Anführungszeichen, die jetzt keiner sieht. Im Euthanasieprogramm wird er dann im Sommer 1942 nach Treblinka berufen. Treblinka, wichtig, dort war ein Vernichtungslager. Er hat auch dieses Vernichtungslager ideologisch mit aufgebaut und auch organisatorisch. Und er war dann auch der erste Lagerkommandant von Treblinka. Er war der einzige Arzt im Nationalsozialismus, der jemals die Verantwortung über ein ganzes Vernichtungslager hatte. #00:21:57.1#

Niklas Miyakis: Sollten wir vielleicht auch mal kurz klären: Unterschied Konzentrationslager, Vernichtungslager, und wo liegen die Vernichtungslager? Da gibts ja auch einen ganz signifikanten Unterschied. Konzentrationslager kennen wir zum Beispiel hier bei uns in Bayern aus Dachau oder Flossenbürg. #00:22:16.5#

Dr. Hannes Liebrandt: Richtig. Vernichtungslager gibt es keines in Deutschland, also auf heutigen deutschen Territorien. Es gab eben in Ausschwitz, Belzec, Sobibor, Treblinka und Majdanek, waren wohl die größten Vernichtungslager. Wir hören das, glaube ich, schon ein bisschen an den Namen. Die waren in den damaligen Ostgebieten, im damaligen Polen, der Sowjetunion errichtet worden. Und diese Vernichtungslager hatten vor allen Dingen ein Ziel gehabt: Im Rahmen der sogenannten Endlösung der Judenfrage, die vor allen Dingen ab 41/42 eingeleitet wird, massiv systematisch und industriell diverse Opfergruppen zu ermorden. Da gab es nicht wie in Konzentrationslagern, dass teilweise die Menschen dann noch irgendwie jahrelang leben mussten, sondern da war wirklich das Morden, das industrielle Morden ganz oben auf der Agenda gestanden. Und Eberl ist nun, das muss man noch mal betonen, er ist nun der Leiter eines Vernichtungslagers. Und davor war er auch Leiter von Tötungsanstalten. Und in Treblinka führt er diese Mordmaschinerie so hoch, dass letztendlich diese Irreführung der neuankommenden Häftlinge überhaupt nicht mehr zu gewährleisten ist. Es müssen wohl chaotische Zustände dann in seiner nicht einmal zweimonatigen Zeit in Treblinka geherrscht haben. Und er ließ in dieser Zeit mehr Menschen umbringen als zur gleichen Zeit in Auschwitz, das vom Komplex her deutlich größer noch mal war als Treblinka. Und dieses Chaos letztendlich führte dann auch zur Absetzung Eberls. Tausende Leichen

liegen da in dem Lagerbereich rum, und er wird dann nach Deutschland zurückversetzt und ist dann noch in den Nachfolgeaktionen des Euthanasieprogramms tätig. Und dann verliert sich etwas die Spur, aber wir erkennen, glaube ich, noch mal ganz wichtig, die Verstrickungen in den Völkermord der Nationalsozialisten bei Eberl. #00:24:04.3#

Niklas Miyakis: Ja. Und ich hatte es ja eingangs gesagt, ich kannte den Fall ja so nicht, und es lässt mich echt fassungslos zurück, wenn wir zum Ausgangspunkt zurückkehren, dass der dann einfach in Ulm in der Untersuchungsanstalt ist, dieser Massenmörder, wenn du so willst. Auf der anderen Seite finde ich, Hannes, zeigt die Episode um Eberl relativ gut, wie schwierig es war, diese Täter aus der ersten oder zweiten Reihe überhaupt zu identifizieren, die dann hinter Schloss und Riegel zu bringen oder zumindest einem ordentlichen Gericht zuzuführen. Mir fällt da ganz spontan zum Beispiel die Anekdote ein über den Lagerkommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß. Auch der konnte ja erst mal untertauchen, hat sich, glaube ich, als Matrose verkleidet und ist dann irgendwo in Schleswig-Holstein als Hilfsarbeiter auf einem Bauernhof tätig gewesen und erst dann im Frühjahr 46 von den Briten aufgespürt worden. Und dass man ihn, glaube ich, überhaupt identifizieren konnte, lag daran, dass er seinen Ehering noch getragen hat. #00:25:02.9#

Dr. Hannes Liebrandt: Und ich habe jetzt, als du das gesagt hast, an Odilo Globocnik gedacht, kennen wahrscheinlich auch wenige, Leiter der Aktion Reinhardt, maßgeblich in Kriegsverbrechen insbesondere im Generalgouvernement, also in Polen involviert. Und da wusste man auch am Ende nicht, wer Globocnik war, der hat sich ja auch als einfacher Soldat dann irgendwie getarnt. Und dann hat man in amerikanischer Kriegsgefangenschaft so auf dem Platz hat man dann einfach mal Odilo hinter ihm hergerufen und dann hat er sich reflexartig umgedreht und dann wusste man oder man hat zumindest ein sehr starkes Indiz gehabt, oh, das ist Odilo Globocnik. #00:25:37.4#

Niklas Miyakis: Also es sind tatsächlich manchmal auch so ein bisschen kreativ anmutende Methoden, mit denen man dann versucht, eben diese Verbrecher zu identifizieren. Lassen uns aber noch ein Stück weit zurückgehen zu Eberl. Der entzieht sich jetzt der Verantwortung durch seinen Selbstmord, entzieht sich damit auch, die eigene Schuld einzugestehen. Das ist ja relativ exemplarisch, da ist er ja kein Einzelfall. Ich denke da zum Beispiel an Hitler, Goebbels und so weiter. Kannst du das genauer beziffern? #00:26:08.3#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja, in der Tat. Also der Selbstmord, insbesondere dieser nationalsozialistischen Elite, könnte man jetzt mal sagen, war doch auch häufig zu beobachten. Sei es jetzt Reichsminister, Gauleiter, SS-Offiziere, Wehrmachtsoffiziere auch, aber eben auch Juristen, Mediziner, Wissenschaftler, die sich dann ihrer Verantwortung entzogen haben. Bleiben wir vielleicht beim Euthanasieprogramm, weil das heute auch so ein bisschen unser thematischer Schwerpunkt ist. Da haben sich eben nicht nur einige Initiatoren des Programms maßgeblich oder vermeintlich umgebracht, eben Martin Bormann und andere, sondern eben auch zahlreiche von diesen Gutachtern, die ich vorhin angesprochen habe. Also die Obergutachter und die normalen Gutachter, und dazu natürlich auch dutzende Lagerärzte und Psychiater. Auch Rudolf Lonauer übrigens, das war der zweite Selbstmörder, sage ich jetzt mal, unter den Anstaltsleitern im Rahmen des Euthanasieprogramms, kurz vor Eintreffen der Amerikaner erschießt er erst seine Ehefrau, dann seine zwei beziehungsweise sieben Jahre alten Töchter und anschließend sich selbst. #00:27:14.8#

Niklas Miyakis: Erinnert mich auch ein bisschen an den erweiterten Selbstmord der Familie Goebbels, die ja auch entschieden hatten für sich und insbesondere auch für ihre Kinder, dass diese nicht in einer Zeit ohne Nationalsozialismus aufwachsen sollen. Also ganz allgemein gesprochen, Hannes, Selbstmord, ist das irgendwie was relativ Charakteristisches für nationalsozialistische Verbrecher in der Zeit? #00:27:35.6#

Dr. Hannes Liebrandt: Schwierig natürlich zu beantworten, weil die Motivlagen beim Selbstmord sehr individuell sind. Trotz dieser aufgelisteten Fälle, die wir gerade genannt haben, entschloss sich eben nicht die Mehrheit der entsprechenden Eliten, würde ich jetzt mal sagen, zum Suizid. Es gab also keinen Automatismus oder keine biografischen Details, wo wir sagen könnten, dann wäre der Selbstmord eine logische Folge gewesen. Und im Falle Eberls ist es noch mal schwieriger zu beurteilen, weil er ja in seinem Abschiedsbrief sich überhaupt nicht darüber äußert. Ganz im Gegenteil übrigens zu Werner Heyde. Ich will jetzt eigentlich nicht zu viele Namen ins Spiel bringen, aber den sollte man vielleicht abschließend noch mal ins Spiel bringen. Werner Heyde war einer der T4 Obergutachter, also ein ganz hohes Tier im Euthanasieprogramm. Und der war nach dem Krieg weiterhin als Arzt tätig bis in die 60er Jahre, unter einem Tarnnamen, und bringt sich dann nach seiner Enttarnung ebenfalls um. Und er hinterlässt auch einen Abschiedsbrief. Und dieser Abschiedsbrief zeigt eben noch mehr Motive, die wir jetzt nicht auf Eberl übertragen können, aber zumindest für Heyde mal durchsprechen können. Ich zitiere jetzt aus diesem Abschiedsbrief: „Protest als einziges mir verbleibende Mittel gegen die widerwärtige Heuchelei, mit der die Macher der angeblich öffentlichen Meinung vorgehen in der Klärung der Vergangenheit. Selbstachtung, weil ich es ablehne, ein bequemes Objekt in einer Angelegenheit darzustellen, die von vornherein als Schauprozess vorbereitet und entsprechend aufgezogen ist.“. #00:29:03.9#

Niklas Miyakis: Dass so einer dann auch noch von widerwärtig spricht, weil widerwärtig ist ja eigentlich das, für das er verantwortlich ist. #00:29:10.6#

Dr. Hannes Liebrandt: Natürlich, auf jeden Fall. Und er sagt halt eben, Protest und Selbstachtung, das sind so die zwei zentralen Motivlagen. Er führt dann noch weiter aus, und jetzt kommt noch, glaube ich, eine entscheidendere Passage dieses Abschiedsbriefes: „Ich habe mich zur Euthanasie nicht gedrängt, niemals, das versichere ich feierlich angesichts des Todes. Handelte es sich für uns beteiligte Ärzte um die Beseitigung unnütze Esser, niemals auch nur um lebensunwertes Leben, sondern um sinnloses Dasein von Wesen, wie die bei der von mir nicht zu vertretenden Kindereuthanasie entweder nie Mensch werden konnten oder denen

wie bei den Erwachsenen das spezifisch Menschliche unwiederbringlich verlorengegangen war.“. #00:29:57.0#

Niklas Miyakis: Also das zeigt für mich auf jeden Fall noch mal so richtig perfide das ideologische Selbstverständnis. Man hatte ja glaube ich in der offiziellen Sprecherart damals in den Diskussionen, die dann auch in Fachzeitschriften und so weitergeführt worden sind, gesagt, das Hauptmotiv ist für uns, dass wir die nicht mit ernähren können. Also sowas, dass man dann so ein bisschen den Gebrauchswert definiert. Und er macht jetzt überhaupt keinen Hehl daraus, dass das erhabenere Motiv für ihn sozusagen das Ideologische ist. #00:30:27.5#

Dr. Hannes Liebrandt: Genau. #00:30:27.7#

Niklas Miyakis: Im Grunde heißt es ja dann nichts anderes als, das Töten ist deshalb in Ordnung. Und das zeigt für mich diesen unglaublichen Fanatismus. #00:30:38.2#

Dr. Hannes Liebrandt: Richtig. Die Nationalsozialisten gingen immer davon aus, diese Menschen wären eine Schwächung der Volksgemeinschaft. Und wenn die noch weiter sozusagen Kinder bekommen und so weiter, dann würde es über die Jahre, über die Generationen, zu einer permanenten Schwächung der Volksgemeinschaft führen. Das war durch die NS-Ideologie dann auch bis ins Detail so dämonisiert. Und ich ende jetzt wirklich mit dem letzten Quellenausschnitt aus diesem Abschiedsbrief, wir sind immer noch bei dem Abschiedsbrief, und zwar mit den letzten Zeilen, doch auch noch erkenntnisreich: „Vor Gott trete ich gefasst und unterwerfe mich seinem Spruch. Ich habe nichts Böses gewollt, soweit ich das nach ehrlicher Selbstprüfung als Mensch zu beurteilen vermag. Er wird entscheiden.“. #00:31:22.7#

Niklas Miyakis: Hannes, ich bin echt kein religiöser Mensch, aber dass sich so ein Massenmörder dann ausgerechnet auf Gott beruft, das macht einen auch ein Stück weit sprachlos. Lass uns drüber sprechen, warum ausgerechnet solche Menschen dann auch ein relativ unbehelligtes Leben in der Bundesrepublik führen konnten, sich schön eingenistet haben. Das ist ja schon auch ein Stück weit ein Schandfleck in der Aufarbeitung. #00:31:46.2#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja, unbedingt. Das ist ein ganz klares Defizit der Aufarbeitung. Diese Entnazifizierung war immer lückenhaft gewesen, man konnte keine systematische Entnazifizierung machen, weil, wir hatten ja auch vorhin gesagt, viele Akten fehlten auch. Und insbesondere Schreibtischtäter, also ich spreche hier von Verwaltungsbeamten in den entsprechenden Reichssicherheitshauptämtern, in den entsprechenden Mordzentren. Ich spreche aber auch von Gauleitern, von Bürgermeistern. Die blieben doch zahlreich auch wirklich unbehelligt, also Jahrzehnte lang, könnte man fast schon sagen. Und manche Taten sind bis heute nicht aufgeklärt. Es spielen da sicherlich auch alte Seilschaften eine Rolle. Wenn man sich auch mal diese personelle Kontinuität anschaut vom Nationalsozialismus zur Bundesrepublik Deutschland. Also zahlreiche Funktionäre, die bis 45 eine Karriere hingelegt haben, konnten auch nach 45 eine Karriere hinlegen. Beim BKA sieht man das zum Beispiel auch sehr stark, dass eben um 1950, fast 70 % der Führungskräfte waren von ehemaligen SS-Mitgliedern. Also man konnte ja die Mitgliedschaft in nationalsozialistischen Vereinigungen, das konnte man meist weitgehend noch nachvollziehen. #00:32:53.2#

Niklas Miyakis: Welche Rolle spielten da die Alliierten? #00:32:55.1#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja, ich denke, wir würden uns das jetzt zu leicht machen, den schwarzen Peter irgendwie den Alliierten zuzuschieben. Man könnte ja sagen, okay, sie hätten ja mit ihren Mitteln diese Aufarbeitung vielleicht auch extern irgendwie einleiten können. Aber es gab eine Fokusverschiebung für die Alliierten. Der Kalte Krieg beginnt ja schlagartig mit dem Kriegsende, würde man sagen.

Winston Churchill spricht gleich vom Eisernen Vorhang, der sich eben durch Europa zieht. Und sowohl auf der Ostseite als auch auf der Westseite hat man eben ehemalige Fachkräfte, sage ich jetzt mal allgemein, der Nationalsozialisten gebraucht und gezielt für eigene Zwecke eingebunden oder eben in Deutschland in entsprechende Positionen gehoben, weil man eben als Ziel erst mal gesetzt hat, es muss hier ein wehrhafter Staat errichtet werden, ganz im „Mittelfeld“, in Anführungszeichen, zwischen Osten und Westen. #00:33:46.0#

Niklas Miyakis: Und im Osten beginnt man noch während des Krieges damit, einfach alle ehemaligen Naziverbrecher, Mitläufer und so weiter zu Antifaschisten zu erklären. Also ich finde da die Metapher auch so treffend: Die Keller sind gar nicht ausgeräumt und schon werden neue Häuser darauf gebaut. #00:34:02.6#

Dr. Hannes Liebrandt: Ja. Und in den 1960er Jahren erkennt man dann mehr und mehr dieses Defizit. Und das muss man vielleicht hier auch noch mal ausdrücklich betonen, indem einfach die Gesellschaft eben auch mal sagt, nein, das kann doch überhaupt nicht sein, dass ehemalige NS-Funktionäre hier noch weiterhin hohe Funktionsträger in der Bundesrepublik sind oder dass es möglich ist, dass sie noch Pensionszahlungen erhalten. Dieser Protest von unten kommt dann eben Gott sei Dank ab den 1960er Jahren und leitet dann eine neue Etappe der Aufarbeitung ein. #00:34:29.5#

Niklas Miyakis: Hannes, lass uns hier zum Ende kommen. Wir haben uns ja was gedacht bei der heutigen Folge. Warum würdest du sagen, ist es so wichtig, sich mit NS-Tätern wie Irmfried Eberl auseinanderzusetzen? #00:34:41.6#

Dr. Hannes Liebrandt: Man muss sich die Frage stellen, ob man den Nationalsozialismus hinreichend erklären und dadurch auch aufarbeiten kann, wenn man diese Täterperspektive eben nicht berücksichtigt. Da kommen dann automatisch so Fragen auf: Warum haben sich die Menschen eben radikalisieren lassen? Wie

funktionierte die Ideologie bei dieser Radikalisierung? Und welche Beweggründe haben diese Menschen selbst angegeben dafür, dass sie sich irgendwie in diese NS-Täterschaft begeben haben? Und ich glaube, deshalb ist die Täterperspektive auch sehr wichtig, und das wird vor allen Dingen seit den 1990er Jahren in der Forschung viel stärker in den Vordergrund gerückt. Man sieht‘s auch Gott sei Dank mittlerweile stärker in Schulbüchern: ein reflektierter Umgang mit dieser Täterperspektive, kein unreflektierter. Und mittlerweile gibt es auch an vielen Orten, an ehemaligen Täterorten, wenn man so sagen will, Aufarbeitung. Und das ist doch eine Erkenntnis, die sich dann nach und nach durchgesetzt hat. #00:35:36.9#

Niklas Miyakis: Du hast jetzt diese Orte selber angesprochen, was würdest du sagen mit Blick auf zum Beispiel ein Museum, es muss jetzt kein spezifisches sein, in das wir hineingehen, das sich mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzt, da sehen wir diese Tätereliten. Was würdest du sagen mit Blick auf die, die ja ein Stück weit auch Verantwortung haben? Ich rede hier von Mitläufern, passiven Zuschauern. Ich finde immer so ein Stück weit, die fehlen mir in solchen musealen Ausstellungen. Weißt du, was ich meine? #00:36:07.7#

Dr. Hannes Liebrandt: Ich weiß. Aber es ist natürlich auch schwierig, diese Masse an Menschen irgendwie zu zeigen. So ein Museum, egal welcher Art, geht ja auch immer exemplarisch vor, also man muss einen einzelnen Fokus setzen. Ich würde sagen, diese Forderungen, die du gerade direkt und indirekt kommuniziert hast, dieser Forderung gehen eigentlich noch die NS-Dokumentationszentren am stärksten nach, die sich im Übrigen auch so erst ab den 1990er Jahren fest etabliert haben. Auch hier werden niemals alle Täterinnen, haben wir im Übrigen auch heute noch gar nicht besprochen, sondern Täter, und Täter beleuchtet, aber es ist doch wirklich ein Anfang. Und um zu Irmfried Eberl zurückzukommen, das war ja auch die Intention deiner Frage: Die juristische Aufarbeitung und die Offenlegung der Taten von Eberl, das ist ja das eine, aber für mich zählt zur gelungenen Aufarbeitung auch, die Taten dieser Menschen überhaupt einmal einer Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Also man könnte vielleicht von einer Art erinnerungskulturellen Aufarbeitung sprechen. Und da weder du noch ich vor meinen Recherchen, noch die meisten Zuhörerinnen

und Zuhörer heute wohl den Namen Irmfried Eberl gekannt haben, zeigt mir, dass wir wohl doch noch nicht am Ende dieser Aufarbeitung sind. #00:37:18.2#

Niklas Miyakis: Hannes, das ist doch ein gutes Schlusswort für die heutige Episode. Es gibt in Deutschland immer lautere Stimmen, die etwas von erinnerungskulturellen Wänden schwadronieren. Ich finde, gerade weil wir Namen wie den von Irmfried Eberl nicht kennen, sollten wir uns nicht umdrehen und von diesem Kapitel der Vergangenheit abwenden. #00:37:40.3#

Dr. Hannes Liebrandt: Unbedingt. Ja. #00:37:41.2#

Niklas Miyakis: In diesem Sinne. Tschüss! #00:37:43.4#

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