Staffel 1, Folge 9
Das Weihnachts-
wunder 1914
„Weihnachten seid ihr wieder zu Hause!“ – Dieses Versprechen erfüllte sich für deutsche Soldaten 1914 nicht. Auch gegnerische Soldaten verbringen ihren Weihnachtsabend an der Front. In der totalen Sinnlosigkeit des Ersten Weltkrieges zwischen Niemandsland, vorderstem Graben, Unterstützungsgraben und Reservegraben vereinbaren Soldaten eine nicht autorisierte Waffenruhe, beerdigen gemeinsam tote Kameraden und singen Weihnachtslieder …
Frieden im großen Krieg
© Bundesarchiv, Bild 183-R36772 / Fotograf(in): o. Ang.
Der Erste Weltkrieg der Menschheit! Nicht nur in Europa tobt dieser Krieg: In Asien, in den Kolonien, auf den Weltmeeren. Der erste totale Krieg. Am Boden, in der Luft, an der Front und der Heimatfront. An der Westfront herrscht Stellungskrieg, der von den Schützengräben aus geführt wird.
Weihnachten 1914 haben sich die Schützengräben längst in eisige Schlammlöcher verwandelt. Aber inmitten des Grauens kommt es am 24. Dezember 1914 zu einem bemerkenswerten Ereignis: In den meisten Sektoren der Westfront einigt man sich auf Waffenruhe und verbringt ein paar friedliche Tage miteinander. Ein britischer Soldat schildert:„Wir tranken von ihrem Schnaps, von unserem Rum. Wir aßen gemeinsam, zeigten uns Fotos unserer Familien und lachten viel“.
© Bundesarchiv, Bild 183-R05906 / Fotograf(in): o. Ang.
alle Folgen, Staffel 3
Die 3. Staffel führt von Oberbayern über Sizilien nach Mississippi. Es werden wieder einige der spannendsten, aber auch grausamstem Morde des 20. Jahrhunderts besprochen. Steigen Sie ein in die Welt des History Crime!
Kurz & Knackig
Folge 9: Verbrüderung unter Trommelfeuer
Niklas Miyakis: Liebe Hörerinnen und Hörer, ein herzliches Willkommen zu unserer Überraschungs-Weihnachts-Special-Folge, in der wir uns, wie ihr das natürlich ein Stück weit auch von uns erwartet, wieder mit einem sehr dunklen Kapitel der Geschichte beschäftigen. Aber es ist a) keine direkte Crime-Folge, weil wir kein klassisches Verbrechen heute thematisieren, und es wird b) ein versöhnliches Ende haben, denn es ist schließlich Weihnachten. Insofern haben wir, das verrät ja auch der Titel schon, heute so ein bisschen auch einen Lichtblick, hoffentlich in dieser heutigen Folge, bei der natürlich wie immer auch der Kollege Hannes Liebrandt mit dabei ist. Hannes, schön, dass du wie immer da bist. #00:01:31.2#
Dr. Hannes Liebrandt: Hallo Niklas! #00:01:32.3#
Niklas Miyakis: Du hast, glaube ich, bevor wir jetzt eintauchen in unsere heutige Zeitreise, hast du etwas vorbereitet, das ich nicht kenne tatsächlich. #00:01:43.6#
Dr. Hannes Liebrandt: Ja Niklas, du bist der Historiker, du hast ja auch Geschichte studiert … #00:01:48.5#
Niklas Miyakis: Und du doch auch Historik? #00:01:49.3#
Dr. Hannes Liebrandt: Ja, aber es geht jetzt um dich gerade. #00:01:51.1#
Niklas Miyakis: Okay. #00:01:51.3#
Dr. Hannes Liebrandt: Deswegen weißt du natürlich jedes historische Ereignis, das am 24.12. stattgefunden hat. Deswegen frage ich dich jetzt einfach mal: Welche historischen Ereignisse fallen dir ein, die am 24.12., egal welches Jahr, egal welche Epoche, stattgefunden haben? #00:02:08.5#
Niklas Miyakis: Am 24.12. wurde auf jeden Fall Jesus geboren. Das weiß ich. #00:02:15.1#
Dr. Hannes Liebrandt: Richtig! #00:02:15.7#
Niklas Miyakis: Hat man wieder richtig was gelernt bei unserem Podcast heute. #00:02:19.0#
Dr. Hannes Liebrandt: Und weiter? Hast noch eins? #00:02:20.9#
Niklas Miyakis: Nein. #00:02:22.3#
Dr. Hannes Liebrandt: Man denkt ja immer so, dass Historiker alle Ereignisse kennen und aus dem Kopf, aber ein Geschichtsstudium ist ja Gott sei Dank nicht so aufgebaut, dass man irgendwie die Ereignisse nur noch auswendig lernt und so. #00:02:32.0#
Niklas Miyakis: Die treuen Hörerinnen und Hörer von uns wissen auf jeden Fall bei uns beiden, dass dem nicht so ist, dass wir jedes Ereignis kennen würden. #00:02:40.0#
Dr. Hannes Liebrandt: Und deswegen habe ich auch nachgeschaut. Ich gebe es zu. Aber ich habe drei Ereignisse mitgebracht. Am 24.12.1799 wird Napoleon Bonaparte per Verfassung de facto Alleinherrscher in Frankreich. Damit endet eigentlich die Französische Revolution, ein ganz wichtiges Kapitel in der europäischen Geschichte. Am 24.12.1865 gründet der General Nathan Bedford Forrest zusammen mit anderen heimgekehrten Soldaten der Südstaaten den Ku-Klux-Klan. Kennt man, glaube ich, auch. #00:03:16.6#
Niklas Miyakis: Ja, kennt man. #00:03:17.7#
Dr. Hannes Liebrandt: Und am 24.12.2003 werden die Hartz-4-Gesetze von Peter Hartz verkündet, die dann zum 1. Januar 2005 dann eben auch in Kraft treten. Jetzt staunst du Niklas, ne? Ein ganz geschichtsträchtiger Tag dieser 24.12.. #00:03:36.8#
Niklas Miyakis: Ich habe keine Ahnung, ob das stimmt, was du hier behauptest. Aber wenn es stimmt, würde ich sagen, eins hat er gehabt, der Gerhard: Humor. Also wenn wir allen Ernstes die Hartz-Gesetze am 24.12., warum auch immer … #00:03:49.9#
Dr. Hannes Liebrandt: Da kriegt es keiner mit. Einfach schnell der Bevölkerung so unterjubeln, wo alle nur feiern und so. Ich weiß es nicht. #00:03:55.3#
Niklas Miyakis: Okay. Hat irgendwie auch was Humoristisches, finde ich, dass diese dann ja nicht für jeden ganz so – ja, wie formuliere ich das jetzt salomonisch – nicht ganz so positiven Gesetze, dass die Heiligabend veröffentlicht worden sind, hat schon auch irgendwie ein bisschen Slapstick. Hannes, wir sprechen aber heute über den 24.12.1914. Darum soll es heute gehen und deshalb tauchen wir jetzt einfach mal ein. Und das hatte ich eingangs gesagt, wir müssen ja auch immer so ein bisschen Grauen drin haben, versuchen wir uns vielleicht so ein bisschen, wenn wir mit der Zeitreise heute anfangen, in die Situation vor dem 24.12. hineinzuversetzen. Damit beginnt unsere heutige Zeitreise. Hannes, wenn ich an den Ersten Weltkrieg denke, dann denke ich vor allen Dingen an riesige Soldatenfriedhöfe, die übersät sind mit Kreuzen. Ich denke an große Materialschlachten, kenne natürlich auch die Opferzahlen, also fast 9 Millionen Soldaten, die ums Leben gekommen sind, und nochmal mindestens 6 Millionen Zivilisten. Unsere heutige Zeitreise, die führt uns eben genau an diese Schlachtfelder Europas, wo das Massensterben beginnt. Wir sind im Jahr 1914, hatten wir schon gesagt. #00:05:18.2#
Dr. Hannes Liebrandt: Ja, richtig. Und der Erste Weltkrieg, das war auch wirklich der Erste Weltkrieg der Menschheit. Nicht nur in Europa tobt dieser Krieg, in Asien, in den Kolonien, auf den Weltmeeren. Und es war auch insbesondere am Ende des Krieges auch der erste totale Krieg. Was meint man mit totaler Krieg? Er wurde am Boden geführt, in der Luft, an der Front und an der Heimatfront. Es gab neuartige Kampfmethoden, Kampftechniken, Kampfinnovationen, es gab Panzer, Kampfflieger, Giftgas. Allein in Westeuropa durchzogen fast 700 Kilometer mörderische Grenze mit Stacheldraht verhauen, mit einem riesigen Bunkersystem von der Schweiz bis zum Ärmelkanal, eben Westeuropa. Man hat sich eingeigelt, die feindlichen Mächte saßen sich gegenüber, und es waren wirkliche Materialschlachten, die eben zu diesen Todeszahlen geführt haben, die du schon angesprochen hast. #00:06:11.4#
Niklas Miyakis: Und diese mörderische Grenze, Hannes, von der du jetzt so schön gesprochen hast, die zieht sich eben auch durch Ypern, Belgien, wo seit Oktober 1914 eine der verlustreichsten Schlachten des Ersten Weltkriegs tobt. Wenn wir uns so ein bisschen in diese Situation hineinversetzen, dann war es damals wohl so, dass es viel geregnet hat, es relativ kalt war, also die Schützengräben hatten sich längst in so eisige Schlammlöcher verwandelt. Aber was wissen wir, wenn wir das jetzt mal so nennen wollen, überhaupt über den heutigen Tatort, der eigentlich keiner im klassischen Sinne ist? #00:06:45.3#
Dr. Hannes Liebrandt: Am Anfang des Krieges tobte dieser Krieg in Belgien wirklich sehr, sehr stark, allgemein an der Westfront, am Anfang Belgien, dann später natürlich auch in Nordfrankreich. Die Spuren der Verwüstung waren wirklich überall sichtbar. Ganze Landstriche der belgischen Kanalküste wurden eben von den vorrückenden deutschen Soldaten dem Erdboden gleichgemacht. Belgien selbst nutzte dann auch in der Verteidigungshaltung zum Teil auch die Taktik der verbrannten Erde. Man hat das Kriegsgebiet überflutet, man wollte eben den Vormarsch der deutschen Truppen dadurch behindern. Und Ypern selbst wurde wirklich schwer zerstört, zahlreiche historische Gebäude, die sukzessive zerstört wurden vom Boden aus, aber auch von der Luft. Die deutsche Artillerie bombardiert unentwegt das Kriegsgebiet, Bauernhöfe werden angezündet, auch die Zivilbevölkerung wird vertrieben, teilweise auch getötet. Und belgische, britische und französische Truppen, also es war ja am Anfang vor allem ein Krieg in Europa gegen die Westmächte, leisten genau dort wirklich erbitterten Widerstand. Die Front kommt dann auch zum Stillstand. Dann bedeutete das eben Stellungskrieg für mehrere Jahre. #00:07:54.6#
Niklas Miyakis: Wie müssen wir uns diesen Stellungskrieg vorstellen? Also wir haben jetzt auf beiden Seiten Schützengräben, die wahrscheinlich erst mal relativ behelfsmäßig, also provisorisch, errichtet worden sind, dann aber, glaube ich, später zu einem ausgeklügelten System werden. Die Spuren sind auch heute oft vielerorts noch sichtbar. Also man schlägt dann da irgendwie Stacheldraht in die Erde, es gibt
vorgelagerte Minenfelder vor den Schützengräben, und dahinter natürlich wahrscheinlich eine riesige Infrastruktur an Feldküchen, Bäckereien, Waffendepots, wahrscheinlich Ställe, die da aufgebaut worden sind. Also korrigiere mich, du hast dich damit intensiver auseinandergesetzt. #00:08:36.8#
Dr. Hannes Liebrandt: Nein, alles richtig. Ja. #00:08:37.0#
Niklas Miyakis: Ein riesiges Monstrum, was man da auf beiden Seiten eigentlich aufbaut, oder? #00:08:43.1#
Dr. Hannes Liebrandt: Genau. Der ständige Begleiter war eben das Trommelfeuer der Artillerie, Maschinengewehrsalven, Handgranaten, Nässe und auch Kälte. Man muss sagen, dieses Schützengrabensystem, das wird zwar ab 1914 schon errichtet, wird dann aber vor allen Dingen in den letzten Kriegsjahren 1916, 1917, 1918, dann noch viel stärker, ja, fast schon perfektioniert, technisiert. Die totale Sinnlosigkeit des Krieges wird wohl im Ersten Weltkrieg nirgends so offensichtlich wie eben in diesen Stellungskriegen. Tausende, hunderttausende Opfer für nichts, für keinerlei Gebietsgewinne. An einem Tag rückten die Briten vielleicht mal zehn Meter vor oder 20 Meter oder 100 Meter und am nächsten Tag die Deutschen wieder. Und dann am Ende beklagt man so und so viel tausend Menschen Verluste, aber man hat überhaupt keinen militärischen Sieg erringen können oder so. Wenn man sich das vorstellt zwischen den beiden Fronten, also jetzt bleiben wir mal bei der britischen und der deutschen Front, dort war das sogenannte Niemandsland. Das Niemandsland war übersät mit Morast und Bombentrichtern, verkohlten Baumstämme, eigentlich die totale Leere, die Natur vollkommen zerstört. Und dann kamen die vordersten Gräben, eben vor allen Dingen die Frontsoldaten dann standen. Die wurden zwar auch ausgetauscht, aber das war erst mal, die wirklich in Rufreichweite zu den gegnerischen Soldaten standen oder saßen. 60 bis 100 Meter weiter dahinter gab es dann sogenannte Unterstützungs- oder Bewegungsgraben. Weitere 250 bis 500 Meter dahinter der sogenannte Reservegraben. Dort versammelten sich dann eben auch Soldaten für einen etwaigen Gegenangriff. Dann
gab es noch ein System von Laufgräben, die wirklich wie Schneisen in die Erde reingehauen wurden. Und ab 17, also ab 1917, da wurde das auch betoniert, mit Betonbunkern versehen. Man kennt vielleicht die Siegfriedstellung oder die Siegfriedlinie, die dann ab 1917 vor allen Dingen von deutschen Truppen errichtet wurde. Und das sieht man einfach, man hat sich vollkommen eingegraben in diese Natur und wollte eben keinen Meter preisgeben. #00:10:49.1#
Niklas Miyakis: Aber wie hat man seine Notdurft zum Beispiel verrichtet? Ich sag jetzt mal ganz salopp, es gab ja wahrscheinlich keine DIXI-Klos, die da irgendwo an der Seite standen. Das muss ja auch alles wahnsinnig gestunken haben, ein wahnsinnig großer Bakterienherd, also Krankheitsüberträger dadurch, dass es eigentlich da auch mit Blick auf das „auf die Toilette gehen“ wahrscheinlich eigentlich nur den Schützengraben gab, oder? #00:11:15.3#
Dr. Hannes Liebrandt: Ja, richtig. Dann sind die Ratten durchgelaufen, die sich dann auch an den Leichen, sorry, wenn ich das sagen muss, aber dann wirklich auch fettgefressen haben. Es gab Infektionen, es gab Krankheiten. Diese Bilder sind vielleicht einer größeren Öffentlichkeit noch in letzter Zeit durch den Dokumentarfilm von Peter Jackson „They Shall Not Grow Old“ aus dem Jahr 2019 bekannt. Hast du das gesehen, Niklas? #00:11:38.6#
Niklas Miyakis: Nein, ich habe mir nur den Trailer angeguckt, als du jetzt sagtest, dass du da kurz drüber sprechen willst. #00:11:44.9#
Dr. Hannes Liebrandt: Kannst du dir echt mal anschauen. Also ein riesiger Aufwand, dort wurde wirklich Original-Filmmaterial, also mehrere Stunden, wurde erst mal gesichtet und dann eben zu einem Dokumentarfilm gedreht und nachkoloriert. Dann sieht man wirklich auch schreckliche Bilder, man sieht vor allem britische Soldaten, die dann auch in den Schützengräben leben und sterben
mussten. Peter Jackson ist, glaube ich, bekannt durch „Herr der Ringe“ und so. #00:12:10.2#
Niklas Miyakis: „Herr der Ringe“, klar. #00:12:10.5#
Dr. Hannes Liebrandt: Also ein ganz, ganz wichtiger Regisseur. Ja, schaut euch das vielleicht mal an. Jetzt muss es nicht irgendwie am 24.12. sein, aber wenn dann so die Weihnachts- … #00:12:18.6#
Niklas Miyakis: Schön mit Oma und den Schwiegereltern, (unv. #00:12:24.0#)
Dr. Hannes Liebrandt: … Weihnachtszeit vorbei ist, kann man sich da vielleicht mal reinschauen. #00:12:28.1#
Niklas Miyakis: Auf jeden Fall natürlich eine ganz neue Art der Kriegsführung in dieser Dimension, das kann man, glaube ich, so sagen, das ist jetzt relativ deutlich geworden. Lass uns noch mal versuchen, konkret in unsere unmittelbare Zeit vor Heiligabend einzutauchen. Man hat da die Soldaten eigentlich auch so mit diesem Spruch in den Krieg geschickt, spätestens bis Weihnachten seid ihr wieder zu Hause. #00:12:52.2#
Dr. Hannes Liebrandt: Ja. #00:12:53.8#
Niklas Miyakis: Aber sie sind eben Heiligabend nicht zu Hause und dieser Stellungskrieg verfestigt sich jetzt. Wie müssen wir uns den 24.12.1914 in Ypern ganz konkret vorstellen? #00:13:05.5#
Dr. Hannes Liebrandt: Furchtbar. Gott sei Dank muss keiner von uns und keiner von unseren Zuhörerinnen und Zuhörern so ein Weihnachtsfest verbringen, auch nur ansatzweise so ein Weihnachtsfest verbringen. Es gab zwar Heimaturlaube von Soldaten an der Front, sicherlich aber auch spärlich, die waren auch genehmigungspflichtig. Da konnte man auch mal davon ausgehen, dass der einfache Soldat an der Front auch nicht als erster berücksichtigt wurde. Den einzigen Trost, der gespendet wurde, waren wirklich Briefe und Geschenke aus der Heimat. Das war, glaube ich, so ein bisschen dieses, wo man sich festklammern konnte, wo man sagen konnte, es gibt noch ein Leben neben der Front oder außerhalb dieses Krieges. Britische Soldaten beispielsweise haben auch eine sogenannte Princess Mary Box bekommen, also Prinzessin Mary war die einzige Tochter vom englischen König. Das war so eine Metallbox mit dem Konterfei von der Prinzessin. Was war drin? Schokolade, Scones, das ist so ein britisches Gebäck, Zigaretten, Tabak und eine Grußkarte. Auch deutsche Soldaten haben entsprechende „Präsente“, in Anführungszeichen, bekommen. Vor allen Dingen Bekleidung, Alkohol, Zigaretten und eben auch Briefe von den Liebsten zu Hause. Und ganz wichtig: Deutsche Soldaten haben auch zum Teil solche Miniatur-Weihnachtsbäume bekommen. Die stehen im Übrigen auch noch in Museen. Also da gibt’s noch welche, die haben diesen Krieg quasi überlebt. Die waren so klappbar. Da sieht man schon eigentlich das Traurige an der Sache, dass man diesen armen Menschen da auch irgendwie noch ein Weihnachtsfest irgendwie bieten wollte. #00:14:37.6#
Niklas Miyakis: Ich find die Sachen, die du jetzt aufgezählt hast, die ja alle eigentlich jetzt nichts Spektakuläres sind, die kriegen, glaube ich, eine ganz andere Wertigkeit, wenn ich da in diesem Schützengraben liege. Also allein schon wie kostbar so ein Brief der eigenen Familie sein muss, wenn ich da liege. Muss man sich, glaube ich, da auch einfach noch mal versuchen zu vergegenwärtigen. Und inmitten dieses Grauens, man packt da jetzt die Weihnachtsgeschenke aus, wenn wir so ein bisschen auch in unserer Geschichte ganz konkret bleiben, da passiert jetzt etwas sehr Unerwartetes. Deswegen heißt unsere heutige Folge ja auch Weihnachtswunder. Was zu einem richtig schönen Wunder gehört: Es ist an dem Tag dann doch etwas besseres Wetter als vorher, also der ständige Regen hat aufgehört, ein scheinbar klarer Tag. Und an den meisten Sektoren kehrt jetzt auch
Stille ein, also Schussruhe. Wahrscheinlich auch eine Art gespenstische Stille, so stelle ich mir das zumindest vor. Was passiert da genau? #00:15:32.8#
Dr. Hannes Liebrandt: Schwierig, sich das wirklich vorzustellen. Also wirklich in dieser Ödnis, muss man ja schon sagen, kommt es dann zu einer Schussruhe. Viele denken sich dann schon: Es ist heute irgendwie anders. Doch, dieser Tag irgendwie unterscheidet sich von den Tagen zuvor. Warum man das jetzt als Wunder bezeichnet oder oftmals als Wunder bezeichnet wurde? Es beginnt dann auf einmal, dass sich Soldaten zurufen. Wir müssen uns das jetzt mal vorstellen, also wirklich in dieser Ödnis. Auf einmal werden Rufe laut, von Briten zu Deutschen rüber, von Deutschen zu Briten rüber. Es begannen Gespräche, natürlich, nachdem man abgeklärt hat, dass eben nicht geschossen wurde. Und auf einmal treten eben Briten aus diesen Gräben heraus, auf der anderen Seite treten Deutsche aus den Gräben heraus, die Hände nach oben. Dass man natürlich vielleicht auch gesagt hat „Don’t shoot! Don’t shoot!“, dass man eben natürlich nicht schießt. In den Händen sieht man dann auch teilweise Zigaretten und Tabak. Also das, was man auch bekommen hat aus der Heimat. Und jetzt beginnt eine Entwicklung, die wir uns heute anschauen werden, die ein paar Tage sogar ging, die so als Weihnachtsfrieden in die Geschichte eingegangen ist. Und das soll unsere heutige Folge ein bisschen erhellen. #00:16:48.3#
Niklas Miyakis: Ich stelle mir das, wenn wir da noch mal kurz bleiben, das stelle ich mir halt auch so krass vor, wie dann plötzlich die ersten da rauskommen und eigentlich wahrscheinlich alle auch so ein bisschen zu ihrem Vorgesetzten gucken, wie reagiert man da jetzt drauf? Das muss ja so ein ganz krasser Moment einfach sein, dieser Augenblick da, wo man sich das erste Mal dann auch sieht so. #00:17:08.4#
Dr. Hannes Liebrandt: Und du riskierst ja trotzdem dein Leben, Niklas, gell. Also man hat ja monatelang sich vorher bekriegt und dann denken sie sich, ist es vielleicht doch irgendwie ein Ablenkungsmanöver oder zückt der jetzt eine Pistole? Aber man
merkt dann doch recht schnell, dass die Stimmung irgendwie eine andere war, definitiv. Man beerdigt dann sogar gemeinsam die gefallenen Soldaten. Auch das ist ein ganz, ganz wichtiges und symbolhaftes Zeichen in dieser Phase des Krieges. Es wurden dann Kerzen und diese kleinen Tannenbäume im Übrigen, die wir gerade angesprochen hatten, auch auf die Gräber gestellt. Und das muss man sich jetzt einfach mal vorstellen. Dann werden diese Kerzen mitten in diesem Niemandsland, also mitten, ich sag nochmal, in dieser Ödnis angezündet und dann erhellen die sich so allmählich. Das ist dann schon ein Symbol des Friedens. Man sang dann sogar Weihnachtslieder. Musik kennt keine Sprachen, keine Nationalitäten, also zumindest die meiste Musik, Gott sei Dank. #00:18:06.1#
Niklas Miyakis: Das gilt jetzt nicht uneingeschränkt für deutsche Schlager, aber … #00:18:09.8#
Dr. Hannes Liebrandt: Aber zumindest für deutsche Weihnachtslieder. Stell dir mal vor, „Stille Nacht, Heilige Nacht“, also im Englischen „Silent Night, Holy Night“, können beide singen. #00:18:18.5#
Niklas Miyakis: Auch mit der gleichen Melodie logischerweise dann. #00:18:20.9#
Dr. Hannes Liebrandt: Richtig. Man trinkt dann gemeinsam, auch das hat man ja bekommen, Alkohol, Tabak, raucht zusammen. Und dann zeigt man sich wirklich die Bilder von der eigenen Familie, von der Frau, von den Kindern, auch vom eigenen Haus oder wo man eben lebt. Ein britischer Soldat, also mehrere britische Soldaten und deutsche Soldaten haben das ja auch dann bestätigt und dann auch irgendwie ihre Ereignisse geschildert. Der sagte dann: Ja, wir tranken von ihrem Schnaps, von unserem Rum, wir aßen gemeinsam, zeigten uns Fotos unserer Familie, lachten viel. Und dann tatsächlich, ja, das ist dann schon mit dieser Verbrüderung gemeint, die an diesem Tag dann stattfindet, dann kommt noch ein Fußball ins Spiel, Niklas. Ein Fußball zwischen Deutschland, ein Fußball, der zwischen deutschen und englischen
Soldaten auf einmal ausgepackt wird und dann kicken die da hin und her im Niemandsland. #00:19:10.5#
Niklas Miyakis: Also zwischen diesen Schützengräben spielen die da wirklich dann Fußball. #00:19:13.9#
Dr. Hannes Liebrandt: Richtig. #00:19:14.6#
Niklas Miyakis: Da, du hast es gesagt, vor allen Dingen Briten dort im Einsatz waren, nehme ich mal an, was heißt nehme ich an, weiß ich auch, das Wembley-Tor gab’s noch nicht. Also die Rivalität zwischen Deutschen und Briten, zumindest was Fußball angeht, war vielleicht auch noch nicht so ausgeprägt, wie es dann später wurde, nachdem 1966 der Ball natürlich nicht drinnen war. #00:19:39.0#
Dr. Hannes Liebrandt: Natürlich nicht. #00:19:40.6#
Niklas Miyakis: Dieses Fußballspiel ist auch heute, könnte man sagen, so ein Stück weit Teil einer gemeinsamen kollektiven Erinnerung. Da steht auch ein Denkmal an der Stelle, wo dieses Fußballspiel stattgefunden haben soll. Und zum Beispiel 100 Jahre später dann, am 25. Dezember 2014, ist auf dem Flanders Peace Field ein, ich hoffe, ich habe das richtig ausgesprochen, aber ich bin ja der, der dafür zuständig ist, immer alles falsch auszusprechen, ich hoffe, das war jetzt richtig, aber da hat eben dann nochmal, um daran zu erinnern, ein Fußballspiel stattgefunden. #00:20:15.3#
Dr. Hannes Liebrandt: Ja, richtig. Und das zeigt halt wirklich noch mal richtig: Sport verbindet. Heute, Sport verbindet auch damals. Das war ja auch kein Sport in dem Sinne, aber es ging einfach um diese Geste auch. Wir wissen natürlich jetzt nicht ganz konkret die genauen Abläufe dieser Tage. Also unsere Quellen, die uns zur Verfügung stehen, stützen sich vor allen Dingen auf Berichte von eben Soldaten, von
beiden Seiten aber auch, die das aber auch unabhängig voneinander bestätigt haben. Es gab neben diesem Fußballspiel, neben diesen Verbrüderungsgesten, dass man eben gemeinsam gesungen hat, auch tatsächlich noch weitere erstaunliche Szenen. In einem Dorf, 30 Kilometer südlich von Ypern, haben wir gerade schon, das ist ja unser Ort heute, wird zum Beispiel ein gemeinsamer Gottesdienst abgehalten. Ins Deutsche hat wohl ein englischer Soldat, der auch Student gewesen ist und Deutsch gelernt hat, übersetzt. Und es war ein britischer Militärpfarrer, der diesen Gottesdienst eben geleitet hat. Und an einer anderen Stelle auch mitten an den Schlachtfeldern, da sind wohl zwei deutsche Soldaten zu den Briten rübergegangen. Muss man sich jetzt auch wieder vorstellen, Hände nach oben, und die Briten denken sich: Oh Weh! Was ist denn hier los? Hier kommt jemand mit deutschen Uniformen. Ziehen dann irgendwie so hektisch die Waffe und die Deutschen müssen wohl gerufen haben: „Don‘t shoot! We don’t want to fight today. We will send you some beer.“ Dann hat man tatsächlich in das Niemandsland zwei Fässer Bier gerollt. #00:21:43.0#
Niklas Miyakis: Ja, das klappt immer. #00:21:46.1#
Dr. Hannes Liebrandt: Also man rollt zwei Fässer Bier direkt zwischen die beiden Frontabschnitte. Und dann kommt da ein deutscher Offizier und ein britischer Offizier, die salutieren, dann werden da zwei Gläser gebracht, dann stößt man gemeinsam an, und ja, trinkt zusammen eben ein Bier. Und dann geht man wieder in die eigenen Schützengräben zurück. Die Briten haben sich dann auch nicht lumpen lassen und wollten sich auch irgendwie revanchieren. Im Gegenzug haben die Briten an diesem Frontabschnitt eben den Deutschen den sogenannten Christmas Pudding geschickt. Jetzt habe ich, Niklas, tatsächlich kurz gegoogelt, was das ist. Weißt du, was der Christmas Pudding ist? #00:22:26.5#
Niklas Miyakis: Ich habe so ungefähr eine Vorstellung davon, weil ich das vor grauer Urzeit, glaube ich, mal probiert habe. Also erstmal würde ich sagen, das ist ein recht schlechter Deal, Bier gegen Christmas Pudding, weil das eher so ein
zusammengemischter Brei ist. Ich glaube, das ist so ähnlich wie die sogenannten Serviettenknödel, die man zum Beispiel da im Thüringer Raum gerne isst. Gibt’s aber, glaube ich, auch in Österreich, keine Ahnung. Aber so ähnlich gemacht, die heißen ja so, weil die, glaube ich, auch in einer Serviette eingerollt werden. Und so ähnlich funktioniert das mit dem Christmas Pudding auch, ist also kein Pudding, … #00:23:01.8#
Dr. Hannes Liebrandt: Nein. #00:23:02.2#
Niklas Miyakis: … sondern eher irgendwie sowas Teigmäßiges oder … #00:23:05.5#
Dr. Hannes Liebrandt: Noch herzhaft eher, also nichts Süßes. Ich glaube, meins wäre es nicht, sage ich ganz offen und ehrlich. Aber gut, Geschmäcker sind ja Gott sei Dank auch verschieden. #00:23:14.0#
Niklas Miyakis: Ja, also ich würde sagen, Bier gegen Christmas Pudding, naja. #00:23:17.4#
Dr. Hannes Liebrandt: 1:0 Deutschland. #00:23:18.4#
Niklas Miyakis: 1 …, ja okay. Dann haben sie das beim Fußballspiel wahrscheinlich dann wieder ausgeglichen, keine Ahnung. Hannes, lass uns ein bisschen auch versuchen, das zu kontextualisieren, dass wir so ein bisschen Verständnis dafür bekommen, wie das überhaupt zustande kam. Wie müssen wir uns das ganz konkret vorstellen? War dieser Weihnachtsfrieden jetzt irgendwie von offizieller Seite angeordnet oder zumindest genehmigt, oder wie war das? #00:23:42.0#
Dr. Hannes Liebrandt: Das eben nicht. Und dieses Urteil kann man fällen auf Basis der Quellenlage. Das war tatsächlich von unten nach oben, das war wirklich eine Verbrüderungs-, Versöhnungsgeste, die höchstwahrscheinlich spontan auch von beiden Seiten und dann auch eine Eigendynamik entwickelt hat. Sie war eben nicht autorisiert. Das sehen wir dann vor allen Dingen daran, dass eben beide militärischen Führungen, also sowohl britische als auch deutsche militärische Führung dann sehr energisch dagegen vorgegangen ist. Es gab einen Fachbegriff dafür dann auch: Fraternisierung. Könnte man mit Verbrüderung übersetzen. Und dann kam es eben in der Folge dann zu sogenannten Fraternisierungsverboten. Das kennt man auch aus dem Zweiten Weltkrieg, da gab es auch Fraternisierungsverbote von der amerikanischen Militärführung gegenüber den eigenen GIs. Also das kann man ganz klar sagen. Das macht’s, meines Erachtens, aber noch symbolträchtiger, dass es wirklich von den Soldaten direkt vor Ort kam. #00:24:45.6#
Niklas Miyakis: Aber was glaubst du, was war denn die Motivation für den Waffenfrieden? Also die spontane Motivation, meine ich jetzt. #00:24:52.7#
Dr. Hannes Liebrandt: Ja. Viele sagen, dass man ja auch mal in Ruhe diese Präsente auspacken wollte. Wir hatten ja gesagt, man wollte mal irgendwann einen Moment der Stille haben, einen Moment, wo man mal den Brief der Frau lesen kann, den Brief von den Kindern lesen kann, wo man eben mal diese Zigarette rauchen kann. Wo man einfach mal diese Botschaften aus der Heimat nur für sich anschauen kann, ohne dass man Gefahr läuft, sein eigenes Leben zu verlieren. Das waren ja Menschen, ganz klar, Familienväter, die dort an den Fronten kämpften, sowohl auf der britischen Seite als auch auf der französisch-belgischen Seite, als auch natürlich auf der deutschen Seite. #00:25:33.0#
Niklas Miyakis: Also einfach mal keine Todesangst haben. #00:25:35.5#
Dr. Hannes Liebrandt: Richtig. #00:25:36.7#
Niklas Miyakis: Es kommt jetzt also zu diesem temporären Frieden, wobei, wieso eigentlich temporär? Es könnte ja auch durchaus sein, man hat jetzt festgestellt, das sind ja alles gar nicht solche Bestien, wie die Propaganda uns das auf unserer Seite versucht hat zu verkaufen, gehen wir doch für immer aus dem Schützengraben. #00:25:54.6#
Niklas Miyakis: Ja, also einen wichtigen Punkt, den du ansprichst, Niklas. Sowohl die britische als auch die deutsche Propaganda wollten ja den Feind so als Schlächter darstellen. Und genau diese Ereignisse am 24. und 25.12. haben jetzt auch zum Teil das Gegenteil bewiesen. Der Frieden bleibt wirklich nur temporär, teilweise wirklich nur bis zum 26.12., also zweiter Weihnachtsfeiertag geht’s dann eigentlich weiter. Es gibt wohl Berichte, dass an einzelnen Frontabschnitten eine Feuerpause bis zum Neujahr, also bis zum 1. Januar 1915, eingelegt wurde. Aber das ist wirklich die Ausnahme. Jetzt stellt sich ja für uns alle die Frage: Wie kann man sich das vorstellen? Man feiert hier noch etwas gemeinsam, man beerdigt zusammen, man trinkt gemeinsam, auf einmal, wie geht der Übergang zum Krieg wieder? #00:26:42.7#
Niklas Miyakis: Ja, finde ich eine ganz spannende Frage tatsächlich. #00:26:45.6#
Dr. Hannes Liebrandt: Ich stelle mir das auch irgendwie so ganz komisch vor. #00:26:47.0#
Niklas Miyakis: Das stelle ich mir mega-absurd vor. Also du sitzt da noch zusammen und irgendwann muss es dann wieder weitergehen mit dem gegenseitigen Bekriegen. #00:26:55.1#
Dr. Hannes Liebrandt: Ein britischer Bataillonsbericht gibt uns da etwas Auskunft, der schildert das ganz gut: Am 26.12. um 08:30 Uhr schießen die Briten dreimal in die Luft und schwenken eine Fahne zu den Deutschen gerichtet „Merry Christmas“. Auf der anderen Seite hebt ein deutscher Hauptmann ein Tuch in die Luft, auf dem er sich dann bedankt, und es steht da: „Thank you“. Dann salutieren beide, gehen wieder in Deckung, dann schießen die Deutschen zweimal in die Luft, und dann geht‘s weiter. Da wird einfach wieder aufeinander geschossen. #00:27:28.0#
Niklas Miyakis: Und das zeigt für mich halt so extrem krass diese absolute Sinnlosigkeit des Massensterbens da vor Ort. #00:27:35.8#
Dr. Hannes Liebrandt: Ja, total. Jetzt stellt sich auch die Frage: Gab es denn solche Ereignisse vielleicht in den Jahren danach, also 1915, 1916? Alle, die jetzt ein bisschen drauf gehofft haben, muss ich leider enttäuschen. Die deutschen Befehlshaber, also die obere militärische Führung, sowohl in Deutschland als auch in Großbritannien, die waren davon überrumpelt, die hätten das auch nicht gedacht und die haben das auch abgelehnt. Deswegen wurde wirklich ganz rigoros dagegen vorgegangen, gegen diese Fraternisierungen. Es wurden Kriegsgerichtsverfahren angeordnet und dementsprechend wurde da ein Klima geschaffen, dass man sich eben nicht mehr getraut hat in den nachfolgenden Jahren dieses, in Anführungszeichen, „Gesetz“ zu brechen. Das war ja dann nichts anderes. #00:28:20.7#
Niklas Miyakis: Also die Feindschaft wurde dadurch immer erbitterter? Was heißt das ganz konkret für den Kriegsschauplatz Ypern? #00:28:27.6#
Dr. Hannes Liebrandt: Ja. Ypern und allgemein Belgien waren echt unglaublich umkämpft im Ersten Weltkrieg. Der Erste Weltkrieg im Übrigen, also insbesondere der Kriegseintritt Großbritanniens erfolgt vor allen Dingen, weil das Deutsche Kaiserreich die Neutralität Belgiens verletzt und eben über Belgien und Frankreich
einmarschiert. Das war die Kriegstaktik, der sogenannte Schlieffen-Plan. Und dort tobten wirklich die heftigsten Kämpfe, insbesondere im Jahr 1914, aber auch 1915, ehe sie sich dann noch nach Nordfrankreich verlagerten. Also wenn man jetzt die Westfront als Maßstab nimmt. Ypern ist auch bis heute so ein nationales Trauma, weil zum ersten Mal in diesem Krieg, vielleicht nicht zum ersten Mal, aber doch maßgeblich eine Stadt und ein Umkreis dieser Stadt in dieses Kriegsgeschehen vollkommen verwickelt wird, also mit massiven Zerstörungen. #00:29:20.5#
Niklas Miyakis: Also dieses Hineinwirken dadurch auch in die Zivilgesellschaft. #00:29:23.7#
Dr. Hannes Liebrandt: Ja. Und die Stadt und Teile der Stadt wurden dann wirklich in Schutt und Asche gelegt. Also wenn wir über Kriegsverbrechen auch im Ersten Weltkrieg sprechen, auch gegen die Zivilbevölkerung, dann müssen wir uns Belgien anschauen. Dann müssen wir tatsächlich auch Ereignisse sehen, die in Belgien 1914, 1915 und danach stattgefunden haben. #00:29:38.6#
Niklas Miyakis: Dazu zählt dann auch der Einsatz von Gas. #00:29:41.5#
Dr. Hannes Liebrandt: Richtig. Der erste totale Krieg, hatte ich ja vorhin auch gesagt, an diesen Westfronten wurde dann eben auch Giftgas eingesetzt. Und wenn man sich da einfach mal eine Meldung im Deutschen Volksblatt vom 28. April 1915 anschaut, da wird geschildert dieser Giftgaseinsatz, relativ kühl und rational geschildert. Das macht‘s aber, meines Erachtens, noch schlimmer, weil man nämlich weiß, dass durch diesen Giftgaseinsatz die Menschen in diesen Schützengräben ja keinen Ausweg mehr hatten und dann wirklich elendig verreckten, muss man wirklich sagen. Ich zitiere jetzt mal aus dieser Meldung: „Nach Mittag sahen französische Soldaten in den vordersten Laufgräben zwischen Langemarck und Knox“, also Fort Knox, „dichten, gelben Rauch aus den deutschen Schützengräben aufsteigen und sich langsam gegen die französischen Stellungen bewegen. Der Nordostwind
bewirkte, dass der Rauch wie ein Teppich über die Erde breitete, die er in einer Höhe von 16 Fuß bedeckte. Die Anwendung von Gasen kam den Franzosen überraschend. Viele unter ihnen wurden vergiftet und starben. Einige glückte es zu entweichen, aber sie wurden kurz darauf ganz schwarz im Gesicht, husteten Blut und fielen tot um. Eine Viertelstunde später rückten die Deutschen aus den Schützengräben vor. Voran Soldaten mit Sicherheitshelmen, um sich zu vergewissern, ob sie die Luft atmen könnten. Da sich das Gas nunmehr verteilte, rückten große Scharen Deutscher vor.“ #00:31:14.0#
Niklas Miyakis: Also ein ganz schrecklicher Tod. #00:31:15.8#
Dr. Hannes Liebrandt: Ganz klar. Und 1917 kommt dann auch noch Senfgas dazu. Im Übrigen, so mal als Side Fact, ist der Begriff Yperit auch noch heute eine doch auch gängige, durchaus gängige Bezeichnung für Giftgas. Also wie stark auch diese Region, dieser Ort … #00:31:33.2#
Niklas Miyakis: Also in Belgien. #00:31:34.1#
Dr. Hannes Liebrandt: … in Belgien, mit Ypern in Verbindung gebracht wird: Yperit. #00:31:39.1#
Niklas Miyakis: 10.000 Menschen sterben Weihnachten 1914, also kein Happy End, könnte man sagen. #00:31:45.7#
Dr. Hannes Liebrandt: Zehntausende, wir haben keine genaue Zahl. #00:31:48.0#
Niklas Miyakis: Was habe ich, habe ich 10.000 …? #00:31:49.5#
Dr. Hannes Liebrandt: Zehntausende. Ja. #00:31:49.9#
Niklas Miyakis: Zehntausende, meinte ich natürlich. Lass uns kurz darüber sprechen, wenn wir da jetzt auch noch mal so das große Fass aufmachen, wollen wir nicht total übertreiben, aber vielleicht so ein Stück weit auch gucken: In Flandern, hattest du gesagt, sind Franzosen mit dabei, sind Briten mit dabei, auf der anderen Seite natürlich deutsche Streitkräfte. Für diese beteiligten Mächte, welche Rolle spielt der Erste Weltkrieg insgesamt? #00:32:17.1#
Dr. Hannes Liebrandt: Ja, unterschiedlich, muss man sagen. Also in der jeweiligen Erinnerungskultur zeigt sich auch eine gewisse nationale Identität, die sich dann auch in der Vermittlung von Geschichte zeigt. In Frankreich zum Beispiel ist der Erste Weltkrieg La Grand Guerre. Das ist der Krieg, in dem man, in Anführungszeichen, „Heldengeschichten“ erzählen konnte. In dem man eben genau in diesen Schützengräben erbitterten Widerstand gegen Deutschland geleistet hat. Bis hin zu der Tatsache, dass man letztendlich diesen Krieg ja auch gewonnen hat. In Großbritannien ebenso: The Great War. Hier hat man auch, einige der verlustreichsten Schlachten in der britischen Militärgeschichte finden an der Westfront des Ersten Weltkrieges statt. Und deswegen kann man sagen, dass der Erste Weltkrieg in deren Erinnerungskultur, insbesondere in Frankreich, noch präsenter ist als der Zweite Weltkrieg. #00:33:06.5#
Niklas Miyakis: Das sieht man, glaube ich, auch relativ gut, wenn man ins Museum geht in Frankreich. #00:33:10.2#
Dr. Hannes Liebrandt: Ja. Auch in den Schulbüchern, wenn man allgemein mal auf den Schulunterricht verweist, da ist ein ganz klarer Unterschied. Im Zweiten Weltkrieg haben die Franzosen eben nicht so diese Heldengeschichten zu erzählen. Man hat einen Fokus auf die Resistance gesetzt, auf den Widerstand, das ist
natürlich auch ein sehr wichtiges Ereignis. Aber man hat ja auch kollaboriert mit der Wehrmacht, mit Nazi-Deutschland, und das will man natürlich weniger erzählen. In Deutschland selbst ist der Zweite Weltkrieg in der Erinnerungskultur viel präsenter und viel stärker. In Russland im Übrigen auch, da ist der große vaterländische Krieg bis heute sehr stark in der Erinnerungskultur. Und so sehen wir das auch, dass der Erste Weltkrieg und auch der zweite, aber jetzt vor allen Dingen der erste, ganz, ganz wichtig für auch die nationale Identität der beteiligten Mächte ist. #00:33:55.3#
Niklas Miyakis: Also Russland, muss man dazusagen, scheidet 1917 natürlich dann aus dem Kriegsgeschehen aus wegen der Revolution, der bolschewistischen. Und du hast es gesagt, dort der Zweite Weltkrieg deutlich präsenter, weil man eben dort sich als Sieger präsentieren kann, was ja realhistorisch auch stimmt. #00:34:13.4#
Dr. Hannes Liebrandt: Genau. #00:34:13.9#
Niklas Miyakis: Also die Russen besiegen maßgeblich Hitler-Deutschland und deswegen dort der Zweite Weltkrieg noch mal … #00:34:19.8#
Dr. Hannes Liebrandt: Richtig. Und dann im Ersten Weltkrieg, ja, sie treten aus, durch den Friedensvertrag von Brest-Litowsk sind sie eigentlich Kriegsverlierer erst mal. Ja, aber ich glaube, diese Episode, Niklas, dieser Weihnachtsfrieden oder dieses Weihnachtswunder, ich weiß gar nicht, wie präsent das in der breiten Bevölkerung ist, können wir jetzt auch nicht spekulieren. Aber das war uns ganz wichtig, heute daran zu erinnern. Was meinst du, kannst du das jetzt noch ein bisschen pointiert aussagen, warum, deiner Meinung nach, diese heutige Folge ganz wichtig ist, dass man sie immer noch mal punktuell auch in unserer Erinnerungskultur einbindet? #00:34:52.7#
Niklas Miyakis: Was man extrem sieht, finde ich, in der heutigen Episode mit Blick auf den 24.12.1914 in Ypern, dass nicht die Menschen miteinander verfeindet sind, sondern das System. Also ein ganz wesentlicher Punkt. #00:35:08.5#
Dr. Hannes Liebrandt: Ja. #00:35:08.6#
Niklas Miyakis: Und das System sagt ihnen dann: Ihr müsst weiter Krieg führen. Das nehme ich auf jeden Fall mit. Und so als letzten Punkt, würde ich sagen, und das ist ja auch der Grund, warum wir kollektiv erinnern, warum wir dieses Fußballspiel zum Beispiel machen im Jahr 2014, weil die Erinnerung an den Schrecken hoffentlich das Potenzial hat, die Freundschaft von heute schätzen zu wissen. #00:35:32.7#
Dr. Hannes Liebrandt: Ja, Niklas, unbedingt. Ich würde auch sagen, diese Weihnachten 1914 waren so ein Lichtblick menschlicher Zivilisation. Wo die Propaganda nicht hingekommen ist, wo die Menschen gesehen haben, hier ist die Grenze letztendlich auch der staatlichen Indoktrination, das sind eben doch Menschen wie wir selbst. Wir könnten jetzt eigentlich zum Abschluss das gar nicht besser in eigenen Worten ausdrücken, als es wirklich die Quellen können. Und wir haben jetzt hier zum Abschluss einen Feldpostbrief mitgebracht von einem deutschen Soldaten, der eben ganz genau noch mal dieses Weihnachtswunder, wenn wir jetzt diesen Begriff weiterverwenden möchten, in eigenen Worten schildert. Und das ist so unser Abschluss unserer Weihnachtsgeschichte, hört euch jetzt noch ganz kurz diesen Feldpostbrief an. Ich beginn einfach mal, wie der deutsche Soldat das wirklich im Jahr 1914 selbst gesehen hat. #00:36:24.8#
Niklas Miyakis: Hannes, bevor du das vorliest, weil ich tatsächlich das auch gut finde, damit zu enden, würde ich dich … #00:36:30.1#
Dr. Hannes Liebrandt: Grätschst du noch mal rein, oder? #00:36:31.5#
Niklas Miyakis: Grätsche ich noch mal rein. Vielleicht interessiert das ja unsere Hörerinnen und Hörer auch, was wir Weihnachten treiben beziehungsweise was bei uns Weihnachten auf den Tisch kommt. Vielleicht verraten wir das zumindest. Ich weiß, du wolltest das nicht erzählen, aber ich frag dich jetzt trotzdem. Was gibt’s denn bei dir? #00:36:49.7#
Dr. Hannes Liebrandt: Ich weiß es auch noch, ich will gar nicht ans Essen denken. #00:36:52.1#
Niklas Miyakis: Weil du jetzt schon so viel gegessen hast in der Vorweihnachtszeit, oder? #00:36:55.0#
Dr. Hannes Liebrandt: Ja, richtig. So die letzten fünf Monate ungefähr. Nein, ich hoffe auf Raclette, ich feiere im engsten Kreis mit meinen Eltern nur. Ich hoffe auf Raclette zumindest an Heiligabend, das macht man doch irgendwie zu zweit oder zu dritt seltener. Aber ansonsten lasse ich mich doch tatsächlich überraschen. Auf jeden Fall weiß ich, dass es Glühwein und Feuerzangenbowle geben wird. #00:37:15.7#
Niklas Miyakis: Wieso, wie kannst du dich überraschen lassen? Machst du das etwa selbst nicht? Also bist du nicht derjenige, der das Weihnachtsessen zubereitet? #00:37:22.1#
Dr. Hannes Liebrandt: Zum Teil. #00:37:23.2#
Niklas Miyakis: Okay. Okay. Bei mir gibt’s wieder Truthahn, gibt’s jedes Jahr am 24.12.. Wollen wir nicht weiter vertiefen. Ich will noch, sorry, noch eine Sache, weil doch Weihnachten ist. #00:37:36.6#
Dr. Hannes Liebrandt: Er unterbricht unsere Geschichte, dieser Niklas, heute. #00:37:39.1#
Niklas Miyakis: Ja, aber dafür endet unsere heutige Episode dann auch wieder mit der Geschichte. Und ich hätte es jetzt blödgefunden, diese Statements, die von mir hier jetzt noch kommen, dann ans Ende zu knallen. Ich würde gerne noch Hörerinnen grüßen, von denen ich weiß, dass sie ganz treue Anhängerinnen unseres noch kleinen Podcasts sind und da wirklich jede Folge hören. Deswegen grüße ich Petra aus Krün. #00:38:03.6#
Dr. Hannes Liebrandt: Und ich die wunderbare Alena aus Kulmbach. #00:38:07.3#
Niklas Miyakis: So, genau. Jetzt grätsche ich tatsächlich nicht mehr rein, versprochen, Hannes. Wir lassen unsere heutige Episode mit dieser Weihnachtsgeschichte, mit diesem Weihnachtswunder enden. Deswegen, jetzt darfst du deine Quelle vorlesen. #00:38:20.5#
Dr. Hannes Liebrandt: Ja, dann zum Abschluss eben der Brief dieses deutschen Soldaten, der eben in den Schützengräben 1914 lag: „Am nächsten Morgen geschah das Unglaubliche, kurz nach acht Uhr zeigten die Franzosen an, dass sie irgendetwas von uns wünschten. Als dieses Manöver von unserer Seite erwidert wurde, kam drüben ein Kopf zum Vorschein, der im gleichen Maße wuchs, als einer unserer Leute vorsichtig stückweise sich aufrichtend die schützende Deckung verließ. Komisch wie ein Kasperle-Theater wirkte dieses Gebaren, dass sich, als gegenseitig kein Schuss fiel, auf beiden Seiten von Mann zu Mann fortpflanzte. Im Augenblick waren die Schützengräben fast leer, und Freund und Feind wandelten zwischen den Drahtverhauen hin und her, hunderte von Menschen. Wenn ich es selbst nicht gesehen hätte, würde ich es nicht glauben, dass so etwas überhaupt möglich sein konnte. Dass sich Menschen, die sich jetzt schon monatelang nach dem
Leben trachteten, mit einem Male gegenübertreten, als ob sie sich nie im Leben bekriegt hätten. Offiziere wie Mannschaften drückten sich die Hände und erzählten sich lebhaft oder versuchten wenigstens dieses zu tun. Die Franzosen gaben Wein, wir ihnen Zigaretten. Ein französischer Offizier bedankte sich für den schönen Lichterbaum und entschuldigte sich, dass in Unkenntnis der Sitte zunächst darauf geschossen worden sei. Weiter dankte er für den schönen Gesang, dem seine Leute und auch er andächtig gelauscht hätten. Dann trat auf seinen Wink eine Gruppe zusammen, die nun ihrerseits ein Liedchen vorsang.“ #00:39:59.4#
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